Der Zauberberg
flammenden Haars und seines Kinnbartes abstach, trank die Flasche Rotwein zu Ende, die er sich zum Diner hatte geben lassen. Zu jeder Hauptmahlzeit trank er eine, auch anderthalb oder zwei, zu schweigen von dem »Brote«, mit dem er schon beim ersten Frühstück begann. Offenbar war der königliche Mann der Labung in ungewöhnlichem Grade bedürftig. Auch in Gestalt von extrastarkem Kaffee führte er sie sich mehrmals am Tage zu: nicht nur in der {839} Frühe, sondern auch mittags trank er ihn aus großer Tasse, – nicht nach der Mahlzeit, sondern während ihrer und neben dem Wein. Beides, hörte Hans Castorp ihn sagen, sei gut gegen das Fieber, – von aller labenden Wirkung ganz abgesehen, sehr gut gegen sein intermittierendes Tropenfieber, das ihn schon am zweiten Tage für mehrere Stunden an Zimmer und Bett fesselte. Quartanfieber nannte der Hofrat es, da es den Holländer ungefähr viertägig anwandelte: erst als ein Klappern, dann als ein Glühen und dann als ein Schwitzen. Auch eine geschwollene Milz sollte er davon haben.
Vingt et un
So verging eine Zeit, – es waren Wochen, wohl drei bis vier, von uns aus geschätzt, da wir uns auf Hans Castorps Urteil und messenden Sinn unmöglich verlassen können. Sie glitten dahin, ohne neue Veränderung zu zeitigen, sie zeitigten auf seiten unseres Helden gewohnheitsmäßigen Trotz gegen unvorgesehene Umstände, die ihm eine verdienstlose Zurückhaltung auferlegten; gegen jenen Umstand, der sich selbst Pieter Peeperkorn nannte, wenn er einen Schnaps zu sich nahm; an das störende Vorhandensein dieses königlichen, gewichtigen und undeutlichen Mannes, – störend in der Tat auf viel derbere Weise, als etwa Herr Settembrini »hier gestört« hatte, in alten Tagen. Trotzig-mißlaunige Falten gruben sich senkrecht zwischen Hans Castorps Brauen ein, und unter diesen Falten betrachtete er fünfmal am Tage die Heimgekehrte, froh immerhin, sie betrachten zu können und voller Geringschätzung für eine großmächtige Gegenwart, die nicht ahnte, ein wie schiefes Licht die Vergangenheit auf sie warf.
Eines Abends nun aber, wie das wohl ohne besonderen Anlaß einmal geschehen mochte, hatte die Abendgeselligkeit in Halle und Zimmern sich reger als alltäglich gestaltet. Es hatte Musik {840} gegeben, Zigeunerweisen, von einem ungarischen Studenten auf der Geige keck exekutiert, worauf Hofrat Behrens, der ebenfalls mit Doktor Krokowski auf eine Viertelstunde erschienen war, irgend jemanden genötigt hatte, in der tieferen Lage des Pianinos die Melodie des »Pilgerchors« zu spielen, während er selbst, daneben stehend, den Diskant des Instrumentes auf hüpfende Art mit einer Bürste bearbeitete und so die begleitenden Violinfiguren parodierte. Das gab zu lachen. Unter großem Applaus, mit wohlwollendem Kopfschütteln, das dem eigenen Übermut galt, verließ der Hofrat danach die Konversationsräume. Die Geselligkeit aber spann sich hin, noch wurde fortmusiziert, ohne daß gesammelte Aufmerksamkeit dafür gefordert worden wäre, man saß bei Domino und Bridge mit Getränken, unterhielt sich mit den Scherzinstrumenten, und plauderte da und dort. Auch die Gesellschaft des Guten Russentisches hatte sich unter die Gruppen der Halle und des Klavierzimmers gemischt. Man sah Mynheer Peeperkorn an verschiedenen Stellen, – man konnte nicht umhin, ihn zu sehen, sein majestätisches Haupt überragte jede Umgebung, schlug sie durch königliche Wucht und Bedeutung, und wenn diejenigen, die ihn umstanden, ursprünglich nur durch das Gerücht seines Reichtums mochten angezogen worden sein, so war es doch sehr bald seine Persönlichkeit selbst und allein, an der sie hingen: lächelnd standen sie und nickten ihm zu, ermunternd und selbstvergessen; gebannt durch sein fahles Auge unter den mächtigen Stirnfalten, in Spannung gehalten durch die Eindringlichkeit seiner langnägeligen Kulturgebärden und ohne über die unverständliche Abgerissenheit, Undeutlichkeit und tatsächliche Unbrauchbarkeit dessen, was ihnen folgte, sich des leisesten Enttäuschungsgefühles bewußt zu werden.
Sehen wir uns unter diesen Verhältnissen nach Hans Castorp um, so finden wir ihn im Schreib- und Lesezimmer, jenem Gesellschaftsraum, wo ihm einst (dies Einst ist vage; Erzähler, {841} Held und Leser sind nicht mehr ganz im klaren über seinen Vergangenheitsgrad) gewichtige Eröffnungen über die Organisation des Menschheitsfortschritts zuteil geworden. Es war stiller hier; nur ein paar Personen teilten mit
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