Der Zauberberg
ihm den Aufenthalt. Jemand schrieb unter einer elektrischen Hängelampe an einem der Doppelpulte. Eine Dame mit zwei Zwickern auf der Nase blätterte an der Bibliothek sitzend in einem illustrierten Bande. Hans Castorp saß in der Nähe des offenen Durchganges zum Klavierzimmer, den Rücken der Portiere zugewandt, mit einer Zeitung auf dem Stuhl, der dort eben gestanden hatte, einem plüschbezogenen Renaissancestuhl, wenn man ihn sehen will, mit hoher, gerader Rückenlehne und ohne Armlehnen. Der junge Mann hielt seine Zeitung zwar so, wie man sie hält, um zu lesen, las aber nicht, sondern lauschte mit schrägem Kopf auf das abgerissene und mit Gespräch durchsetzte Musizieren nebenan, während die Finsternis seiner Brauen darauf hindeutete, daß auch dies nur mit halbem Ohre geschah, und daß seine Gedanken unmusikalische Wege gingen, dornige Wege der Enttäuschung durch Umstände, die einen jungen Mann, der große Wartezeit auf sich genommen, am Ende dieser Wartezeit schmählich zum Narren hielten, – bittere Wege des Trotzes, auf denen es bestimmt nicht mehr weit war bis zu dem Entschluß und seiner Ausführung, die Zeitung auf diesen zufälligen und unbequemen Stuhl zu legen, durch jene Tür, durch die nach der Halle, hinauszugehen und die frostbeißende Einsamkeit der Balkonloge, zu zweien mit Maria Mancini, gegen diese verpfuschte Geselligkeit einzutauschen.
»Und Ihr Vetter, Monsieur?« fragte hinter ihm, über seinem Kopf, eine Stimme. Es war eine bezaubernde Stimme für sein Ohr, das nun einmal geschaffen war, ihre herbsüße Verschleierung als extreme Annehmlichkeit zu empfinden – den Begriff des Angenehmen eben auf einen extremen Gipfel getrieben –, es war die Stimme, die vor Zeiten gesagt hatte: »Gern. Aber {842} mach ihn nicht entzwei«, eine bezwingende, eine Schicksalsstimme, und wenn ihm recht war, so hatte sie nach Joachim gefragt.
Er ließ seine Zeitung langsam sinken und schob das Gesicht etwas höher, so daß sein Kopf weiter oben, nur mit dem Haarwirbel an der steilen Stuhllehne lag. Er schloß sogar die Augen ein wenig, tat sie aber gleich wieder auf, um sie schräg aufwärts, in der Richtung, die seinem Blick durch die Haltung seines Kopfes gewiesen war, irgendwohin ins Leere zu richten. Der Gute, man hätte sagen mögen, sein Ausdruck habe fast etwas Seherisches und Somnambules. Er wünschte, sie möchte noch einmal fragen, doch das geschah nicht. So war er nicht einmal sicher, ob sie noch hinter ihm stände, als er nach geraumer Zeit, mit sonderbarer Verspätung und halber Stimme zur Antwort gab:
»Er ist tot. Er hat Dienst gemacht in der Ebene und ist gestorben.«
Er selbst bemerkte, daß »tot« das erste betonte Wort war, das wieder zwischen ihnen fiel. Er bemerkte zugleich, daß sie aus Mangel an Vertrautheit mit seiner Sprache zu leichte Ausdrükke des Mitgefühls wählte, als sie hinter und über ihm sagte:
»O weh. Das ist schade. Ganz tot und begraben? Seit wann?«
»Seit einiger Zeit. Seine Mutter nahm ihn mit sich hinunter. Es war ihm ein Kriegsbart gewachsen. Es sind drei Ehrensalven über seinem Grabe abgegeben worden.«
»Die hatte er verdient. Er war sehr brav. Viel braver als andere Leute, gewisse andere.«
»Ja, er war brav. Radamanth sprach immer von seinem Biereifer. Aber sein Körper wollte es anders. Rebellio carnis, heißt es bei den Jesuiten. Er war immer körperlich gesinnt, auf ehrenhafte Weise. Aber sein Körper hatte Unehrenhaftes eindringen lassen und schlug seinem Biereifer ein Schnippchen. Es ist übrigens moralischer, sich zu verlieren und selbst zu verderben, als sich zu bewahren.«
{843} »Ich sehe wohl, man ist immer noch ein philosophischer Taugenichts. Radamanth? Wer ist das?«
»Behrens. Settembrini nennt ihn so.«
»Ah, Settembrini, ich weiß. Das war jener Italiener da … Ich liebte ihn nicht. Er war nicht menschlich gesinnt.« (Die Stimme sprach das Wort »mähnschlich« aus, mit einer gewissen trägen und schwärmerischen Dehnung.) »Er war hochmütig.« (Auf der zweiten Silbe betont.) »Er ist nicht mehr da? Ich bin dumm. Ich weiß nicht, was das ist: Radamanth.«
»Etwas Humanistisches. Settembrini ist verzogen. Wir haben weitläufig philosophiert in diesen Zeiten, er und Naphta und ich.«
»Wer ist Naphta?«
»Sein Widersacher.«
»Wenn er sein Widersacher ist, möchte ich seine Bekanntschaft machen. – Aber habe ich nicht gesagt, daß Ihr Vetter sterben würde, wenn er versuchte, in der Ebene Soldat zu sein?«
»Ja, du
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