Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
schmalen Armen und schwellenden Schenkeln und halbgeschlossenen Augen, das in herrlicher, höhnischer Herausforderung unsere höchste Inständigkeit beansprucht, alle Spannkraft unserer Manneslust, die vor ihm besteht oder zuschanden wird, – zuschanden, junger Mann, begreifen Sie, was das hieße? Die Niederlage des Gefühls vor dem Leben, das ist die Unzulänglichkeit, für die es keine Gnade, kein Mitleid und keine Würde gibt, sondern die erbarmungslos und hohnlachend verworfen ist, – er-ledigt, junger Mann, und ausgespien … Schmach und Entehrung sind gelinde Worte für diesen Ruin und Bankerott, für diese grauenhafte Blamage. Sie ist das Ende, die höllische Verzweiflung, der Weltuntergang …«
    Der Holländer hatte beim Sprechen den mächtigen Körper mehr und mehr zurückgeworfen, während zugleich sein königliches Haupt sich zur Brust neigte, als wollte er einschlafen. Bei dem letzten Worte aber ließ er die schlaffe Faust ausholend zu schwerem Schlage auf den Tisch fallen, so daß der schmächtige Hans Castorp, nervös von Spiel und Wein und von der Eigentümlichkeit aller Umstände, zusammenfuhr und ehrfürchtig erschrocken auf den Gewaltigen blickte. »Weltunter {856} gang« – wie das Wort ihm zu Gesichte stand! Hans Castorp erinnerte sich nicht, es jemals aussprechen gehört zu haben, außer etwa in der Religionsstunde, und das war kein Zufall, dachte er, denn wem unter allen Menschen, die er kannte, wäre ein solches Donnerwort wohl zugekommen, wer hatte
das Format
dafür – um die Frage richtig zu stellen? Der kleine Naphta hätte sich seiner wohl einmal bedienen können; doch wäre das Usurpation und scharfes Geschwätz gewesen, während in Peeperkorns Munde das Donnerwort seine ganze schmetternde und posaunenumdröhnte Wucht, kurz, biblische Größe gewann. »Mein Gott – eine Persönlichkeit!« empfand er zum hundertstenmal. »Ich bin an eine Persönlichkeit geraten, und sie ist Clawdias Reisebegleiter!« Ziemlich benebelt auch seinerseits, drehte er sein Weinglas auf dem Tisch um sich selbst, die andere Hand in der Hosentasche und ein Auge zugekniffen vor dem Rauch der Zigarette, die er im Mundwinkel hielt. Hätte er nicht schweigen sollen, nachdem von berufener Seite Donnerworte gesprochen worden? Was sollte da noch seine spröde Stimme? Aber an Diskussion gewöhnt durch seine demokratischen Erzieher – beide von Natur demokratisch, obgleich der eine sich sträubte, es zu sein –, ließ er sich zu einem seiner treuherzigen Kommentare verleiten. Er sagte:
    »Ihre Bemerkungen, Mynheer Peeperkorn« (was war das für ein Ausdruck: Bemerkungen! Macht man »Bemerkungen« über den Weltuntergang?), »führen meine Gedanken noch einmal auf das zurück, was vorhin über das Laster ausgemacht wurde, nämlich daß es in einer Beleidigung der einfachen und, wie Sie sagen, heiligen, oder, wie ich sagen möchte, klassischen Lebensgaben besteht, der Lebensgaben von Format, sozusagen, zugunsten der späten und ausgepichten, der Raffinements, denen man ›frönt‹, wie einer von uns beiden sich ausdrückte, während man sich den großen ›weiht‹ und ihnen ›huldigt‹. Aber hier scheint mir nun eben auch die Entschuldigung – verzeihen Sie, {857} ich bin eine zur Entschuldigung geneigte Natur, – obgleich Entschuldigung wohl kein Format hat, wie ich deutlich fühle – die Entschuldigung also für das Laster zu liegen, und zwar gerade insofern es auf ›Unzulänglichkeit‹, wie wir es nannten, beruht. Sie haben über die Schrecken der Unzulänglichkeit Dinge solchen Formates gesagt, daß Sie mich aufrichtig betroffen sehen davon. Aber ich meine, der Lasterhafte zeigt sich durchaus nicht unempfindlich für diese Schrecken, sondern im Gegenteil läßt er ihnen alle Gerechtigkeit widerfahren, indem das Versagen seines Gefühls vor den klassischen Lebensgaben ihn zum Laster treibt, worin also keine Beleidigung des Lebens liegt oder zu liegen braucht, da es ebensogut als Huldigung davor aufgefaßt werden kann, und zwar insofern die Raffinements ja Rausch- und Erhebungsmittel darstellen, stimulantia, wie man sagt, Stützen und Steigerungen der Gefühlskräfte, weshalb denn also doch das Leben ihr Zweck und Sinn ist, die Liebe zum Gefühl, das Trachten der Unzulänglichkeit nach Gefühl … Ich meine …«
    Was redete er da? War es nicht der demokratischen Unverschämtheit genug, »einer von uns beiden« zu sagen, wo es sich um eine Persönlichkeit und um ihn handelte? Zog er den Mut zu

Weitere Kostenlose Bücher