Der Zauberberg
dieser Frechheit aus Vergangenheiten, die gewisse gegenwärtige Besitzrechte in ein schiefes Licht setzten? Stach ihn der Haber, daß er sich obendrein in eine ebenfalls durchaus unverschämte Analyse des »Lasters« verstricken mußte? Nun mochte er sehen, wie er sich aus der Sache zog; denn es war klar, daß er Fürchterliches heraufbeschworen.
Mynheer Peeperkorn war während der Rede seines Gastes in seiner zurückgeworfenen Haltung mit auf die Brust gesenktem Kopfe verharrt, so daß man hätte zweifeln können, ob Hans Castorps Worte in sein Bewußtsein drangen. Jetzt aber, allmählich, während der junge Mann sich verwirrte, begann er, sich von der Lehne aufzurichten, höher und höher, zu voller {858} Größe, während zugleich sein majestätisches Haupt rot anschwoll, seine Stirnarabesken sich hoben und spannten und seine kleinen Augen sich zu blasser Drohung erweiterten. Was bereitete sich vor? Ein Koller, gegen den der vorangegangene nur leichte Verstimmung bedeutet hatte, schien im Anzuge. Mynheers Unterlippe stemmte sich in mächtigem Grimm gegen die obere, so daß die Mundwinkel sich senkten und das Kinn vorgetrieben wurde, und langsam hob sich sein rechter Arm von der Tischplatte in Haupteshöhe und darüber hinaus, die Faust geballt, großartig ausholend zum Vernichtungsschlage gegen den demokratischen Schwätzer, der, in Schrecken gejagt und doch auch abenteuerlich erfreut durch das Bild ausdrucksvoll königlichen Zornmutes, das sich vor ihm entfaltete, Mühe hatte, Furcht und Fluchtneigung zu verbergen. Er sagte eilig zuvorkommend:
»Natürlich habe ich mich mangelhaft ausgedrückt. Das Ganze ist eine Frage des Formats, nichts weiter. Man kann nicht Laster nennen, was Format hat. Das Laster hat niemals Format. Die Raffinements haben keines. Aber dem menschlichen Trachten nach Gefühl ist ja von Urzeiten her ein Hilfsmittel, ein Rausch- und Begeisterungsmittel an die Hand gegeben, das selbst zu den klassischen Lebensgaben gehört und den Charakter des Einfachen und Heiligen, also nicht des Lasterhaften trägt, ein Hilfsmittel von Format, wenn ich so sagen darf, der Wein also, ein göttliches Geschenk an die Menschen, wie schon die alten humanistischen Völker behaupteten, die philanthropische Erfindung eines Gottes, mit der sogar die Zivilisation zusammenhängt, erlauben Sie mir den Hinweis. Denn wir hören ja, daß dank der Kunst, den Wein zu pflanzen und zu keltern, die Menschen aus dem Stande der Roheit traten und Gesittung erlangten, und noch heute gelten die Völker, bei denen Wein wächst, für gesitteter, oder halten sich dafür, als die weinlosen, die Kimmerer, was sicher bemerkenswert ist. Denn {859} es will sagen, daß Gesittung gar nicht Sache des Verstandes und wohlartikulierter Nüchternheit ist, sondern vielmehr mit der Begeisterung zu tun hat, dem Rausch und dem gelabten Gefühl, – ist das nicht, wenn ich so frei sein darf, Ihnen die Frage vorzulegen, auch Ihre Meinung in dieser Angelegenheit?«
Ein Schlingel, dieser Hans Castorp. Oder, wie Herr Settembrini es mit schriftstellerischer Feinheit ausgedrückt hatte, ein »Schalk«. Unvorsichtig und selbst frech im Verkehr mit Persönlichkeiten – und geschickt dann auch wieder, wenn es galt, sich aus der Patsche zu ziehen. Da hatte er erstens, in brenzligster Lage und aus dem Stegreif, eine Ehrenrettung des Trunkes mit vielem Anstand vollzogen, hatte ferner, ganz nebenbei, die Rede auf »Gesittung« gebracht, von welcher in Mynheer Peeperkorns ur-fürchterlicher Haltung allerdings wenig zu spüren war, und endlich diese Haltung gelockert und unpassend gemacht, indem er dem großartig darin Befangenen eine Frage vorgelegt hatte, die man mit erhobener Faust unmöglich beantworten konnte. Der Holländer ließ denn auch nach in seiner vorsündflutlichen Grimmgebärde; langsam senkte sein Arm sich nieder zum Tisch, sein Haupt schwoll ab, »dein Glück!« stand in seiner nur noch bedingungsweise und nachträglich drohenden Miene zu lesen, das Gewitter verzog sich, und überdies mischte nun Frau Chauchat sich ein, indem sie ihren Reisebegleiter auf den eingerissenen Verfall der Geselligkeit hinwies.
»Lieber Freund, Sie vernachlässigen Ihre Gäste«, sagte sie auf französisch. »Sie widmen sich allzu ausschließlich diesem Herrn, mit dem Sie zweifellos wichtige Dinge auszumachen haben. Aber unterdessen hat das Spiel fast aufgehört, und ich fürchte, man langweilt sich. Wollen wir den Abend beschließen?«
Peeperkorn wandte sich
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