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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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was habe ich für Nächte! Jede Nacht träume ich von ihr, ach, was träume ich nicht alles von ihr, es brennt mir im Schlunde und in der Magengegend, wenn ich dran denke! Und immer endet es damit, daß sie mir Ohrfeigen gibt, mich ins Gesicht schlägt und manchmal auch anspeit, – mit vor Ekel verzerrtem Seelenangesicht speit sie mich an, und dann wache ich auf, mit Schweiß und Schmach und Lust bedeckt …«
    »So, Wehsal, nun wollen wir mal still sein und uns vorneh {936} men, den Mund zu halten, bis wir zum Gewürzkrämer kommen und jemand sich zu uns setzt. Das ist mein Vorschlag und meine Anordnung. Ich will Sie nicht kränken und gebe zu, daß Sie in großen Schwulitäten sind, aber wir hatten zu Haus eine Geschichte von einer Person, die damit bestraft wurde, daß ihr beim Sprechen Schlangen und Kröten aus dem Munde kamen, mit jedem Wort eine Schlange oder Kröte. Es stand nicht im Buch, wie sie sich dem gegenüber verhielt, aber ich habe immer angenommen, daß sie sich wohl aufs Mundhalten verlegt haben wird.«
    »Es ist aber ein Menschenbedürfnis,« sagte Wehsal kläglich, »ein Menschenbedürfnis, lieber Castorp, zu reden und sich das Herz zu erleichtern, wenn man in solchen Schwulitäten sitzt wie ich.«
    »Es ist sogar ein Menschen
recht
, Wehsal, wenn Sie wollen. Aber es gibt Rechte, meiner Meinung nach, von denen man unter Umständen vernünftigerweise keinen Gebrauch macht.«
    Also waren sie still nach Hans Castorps Anordnung, und übrigens hatten die Wagen das weinlaubbewachsene Häuschen des Gewürzkrämers rasch erreicht, wo man denn nicht einen Augenblick zu warten hatte: Naphta und Settembrini waren schon auf der Straße, dieser in seiner schadhaften Pelzjacke, jener dagegen in einem weißlichgelben Frühjahrsüberzieher, der überall gesteppt war und geckenhaft anmutete. Man winkte, man tauschte Grüße, während die Wagen wendeten, und die Herren stiegen ein: Naphta nahm als vierter im vorderen Landauer an Ferges Seite Platz, und Settembrini, in glänzender Laune, von klaren Scherzen sprudelnd, gesellte sich zu Hans Castorp und Wehsal, wobei dieser ihm seinen Sitz im Fond des Wagens überließ, – welchen Herr Settembrini denn in der Haltung des Korsofahrers, mit erlesener Lässigkeit, einzunehmen wußte.
    Er pries den Genuß des Fahrens, dies Bewegtwerden des {937} Körpers in behaglichem Ruhestande und bei wechselnder Szenerie; zeigte sich väterlich-verbindlich gegen Hans Castorp und tätschelte sogar dem armen Wehsal die Wange, indem er ihn aufforderte, des eigenen unsympathischen Ich in der Bewunderung der lichten Welt zu vergessen, auf die er mit seiner Rechten im schäbigen Lederhandschuh ausholend deutete.
    Sie hatten beste Fahrt. Die Pferde, muntere Blessen alle vier, gedrungen, glatt und satt, schlugen in festem Takt die gute Straße, die noch nicht staubte. Felsentrümmer, in deren Fugen Gras und Blumen sprossen, traten zuweilen an ihren Rand, Telegraphenstangen flohen zurück, Bergwälder stiegen auf, anmutige Kurven, die man anstrebte und zurücklegte, unterhielten die Wegesneugier, und immer dämmerte teilweis noch verschneites Gebirge in sonniger Fernsicht. Das gewohnte Talgebiet war verlassen, die Verrückung der alltäglichen Szene erfrischte das Gemüt. Bald hielt man am Waldesrand: Von hier aus wollte man zu Fuß den Ausflug fortsetzen und das Ziel gewinnen, – ein Ziel, mit dem man schon des längeren, ohne es anfangs gewahr geworden zu sein, in schwachem, aber sich stetig verstärkendem sinnlichen Kontakte stand. Ein fernes Geräusch wurde allen bewußt, sobald die Fahrt eingestellt war, ein leises, zuweilen der Wahrnehmung noch wieder entkommendes Zischen, Schüttern und Brausen, das zu unterscheiden man einander aufforderte, und auf das man gefesselten Fußes horchte.
    »Jetzt«, sagte Settembrini, der öfters hier gewesen war, »läßt es sich schüchtern an. Aber an Ort und Stelle ist es brutal um diese Jahreszeit, – machen Sie sich gefaßt, wir werden unser eigen Wort nicht verstehen.«
    So gingen sie denn waldeinwärts, auf einem Wege mit feuchter Nadelstreu, voran Pieter Peeperkorn, auf den Arm seiner Begleiterin gestützt, den schwarzen weichen Hut in der Stirn, mit seitwärts nickendem Tritt; mitten hinter ihnen Hans Ca {938} storp, ohne Hut, wie alle übrigen Herren, die Hände in den Taschen, mit schrägem Kopfe und leisem Pfeifen um sich blikkend; dann Naphta und Settembrini, dann Ferge mit Wehsal, zum Schluß der Malaie allein, den Vesperkorb am

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