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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Körperliche vom Seelischen zu unterscheiden; denn von Grauen konnte nicht wohl die Rede sein. Was er dachte, war ungefähr: »Na, die vermißt sich ja weitgehend!« {1024} Zugleich aber wandelte Rührung, ja Erschütterung ihn an, eine verwirrte Rührung und Erschütterung, ein Gefühl, geboren aus Verwirrung, aus dem täuschenden Umstande nämlich, daß ein junges Blut, dessen Hände er hielt, an seinem Ohre ein »Ja« gehaucht hatte.
    »Er hat Ja gesagt«, rapportierte er und schämte sich.
    »Gut denn, Holger!« sprach Dr. Krokowski. »Wir nehmen dich beim Wort. Wir alle vertrauen, daß du redlich das Deine tust. Der Name des Teuren, nach dessen Manifestation wir verlangen, wird dir sogleich genannt werden. Kameraden«, wandte er sich an die Gesellschaft, »heraus mit der Sprache! Wer ist es, der einen Wunsch in Bereitschaft hat? Wen soll uns Freund Holger zeigen?«
    Ein Schweigen folgte. Es wartete jeder auf eine Äußerung des anderen. Der einzelne hatte sich wohl in den letzten Tagen geprüft, wohin, zu wem seine Gedanken gingen; doch bleibt die Rückkunft Verstorbener, das heißt: die Wünschbarkeit solcher Wiederkehr immer ein verwickeltes und heikles Ding. Im Grunde und gerade heraus gesprochen besteht sie nicht, diese Wünschbarkeit; sie ist ein Irrtum; sie ist, bei Lichte besehen, genau so unmöglich, wie die Sache selbst, was sich erweisen würde, höbe die Natur die Unmöglichkeit dieser nur einmal auf; und was wir Trauer nennen, ist vielleicht nicht sowohl der Schmerz über die Unmöglichkeit, unsere Toten ins Leben kehren zu sehen, als darüber, dies gar nicht wünschen zu können.
    So empfanden dunkel alle, und wiewohl es sich hier um keine ernste und praktische Rückkehr ins Leben, sondern um eine rein sentimentale und theatralische Veranstaltung handelte, bei der man den Ausgeschiedenen eben nur sehen sollte, der Fall also lebensunbedenklich war, so fürchteten sie sich doch vor dem Angesichte dessen, an den sie dachten, und jeder hätte das Recht, einen Wunsch zu äußern, lieber dem Nächsten zugeschoben. Auch Hans Castorp, obgleich er das gutmütig {1025} liberale »Bitte – bitte!« aus der Nacht vernahm, hielt sich zurück und war im letzten Augenblick ziemlich bereit, einem anderen den Vortritt zu lassen. Da es ihm aber zu lange dauerte, so sagte er denn, den Kopf gegen den Sitzungsleiter gewandt, mit belegter Stimme:
    »Ich möchte meinen verstorbenen Vetter Joachim Ziemßen sehen.«
    Das war Befreiung für alle. Von sämtlichen Anwesenden hatten nur Dr. Ting-Fu, der Tscheche Wenzel und das Medium selbst den Angeforderten nicht gekannt. Die übrigen, Ferge, Wehsal, Herr Albin, der Staatsanwalt, Herr und Frau Magnus, die Stöhr, die Levi, die Kleefeld, bekundeten laut und froh ihren Beifall, und selbst Dr. Krokowski nickte zufrieden, obgleich sein Verhältnis zu Joachim allezeit kühl gewesen war, da dieser im Punkte der Analyse sich wenig willfährig erwiesen hatte.
    »Sehr wohl«, sagte der Doktor. »Du hörtest, Holger? Im Leben war der Genannte dir fremd. Erkennst du ihn im Jenseits der Dinge und bist du bereit, ihn uns herbeizuführen?«
    Größte Erwartung. Die Schlafende schwankte, seufzte und schauderte. Sie schien zu suchen und zu kämpfen, während sie, hin und her sinkend, bald an Hans Castorps Ohr, bald an dem der Kleefeld Unverständliches flüsterte. Endlich empfing Hans Castorp von ihren beiden Händen den Druck, der »Ja« bedeutete. Er erstattete Meldung, und –
    »Gut denn!« rief Dr. Krokowski. »An die Arbeit, Holger! Musik!« rief er. »Gespräch!« Und er wiederholte die Einschärfung, daß keinerlei Gedankenkrampf und gewaltsame Vorstellung des Erwarteten, sondern einzig eine zwanglos schwebende Achtsamkeit der Sache zu dienen vermöge.
    Nun folgten die sonderbarsten Stunden, die unseres Helden junges Leben bis dahin aufzuweisen hatte; und obgleich uns sein späteres Schicksal nicht vollkommen deutlich ist, obgleich wir ihn an einem bestimmten Punkt unserer Geschichte aus {1026} den Augen verlieren werden, möchten wir annehmen, daß es die überhaupt sonderbarsten blieben, die er erlebte.
    Es waren Stunden, mehr als zwei, wir sagen es gleich, eine kurze Unterbrechung der nun anhebenden »Arbeit« Holgers oder eigentlich des Jungfräuleins Elly mit eingerechnet, – dieser Arbeit, die sich entsetzlich in die Länge zog, so daß man endlich an einem Ergebnis zu verzagen allgemein im Begriffe war und außerdem aus purem Mitleid oft genug sich versucht fühlte, sie

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