Der Zauberberg
es hier gehe, werde abkürzen können.
»Ist die Platte zur Stelle?« erkundigte sich der Doktor.
Nein, das war sie nicht. Aber Hans Castorp konnte sie ohne weiteres holen.
»Wo denken Sie hin!« Krokowski wies das unbedingt von der Hand. Wie? Hans Castorp wollte gehen und kommen, etwas {1031} holen und dann die unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen? Unerfahrenheit rede aus ihm. Nein, das sei schlechthin unmöglich. Alles wäre zerstört, man könnte von vorn beginnen. Auch die wissenschaftliche Exaktheit verbiete, an solch willkürliches Aus- und Eingehen nur zu denken. Die Tür sei verschlossen. Er, der Doktor, trage den Schlüssel in der Tasche. Und kurz, wenn die Platte nicht ohne weiteres greifbar sei, so müsse man – Er redete noch, als der Tscheche vom Grammophon her dazwischen warf:
»Die Platte ist hier.«
»Hier?« fragte Hans Castorp …
Ja, hier. Margarete, Gebet des Valentin. Bitte sehr. Sie hatte ausnahmsweise im leichten Album gesteckt und nicht im grünen Arien-Album Nummer II, wohin sie nach der Organisation gehörte. Sie war zufälligerweise, außerordentlicherweise, schlampigerweise, erfreulicherweise unter die Allotria geraten und brauchte nur eingelegt zu werden.
Was sagte Hans Castorp dazu? Er sagte nichts. Der Doktor war es, der »Desto besser« sagte, und mehrere wiederholten es. Die Nadel wetzte, der Deckel sank. Und männlich begann es zu choralhaften Klängen: »Da ich nun verlassen soll –«
Niemand sprach. Man lauschte. Elly hatte, sobald der Gesang begann, ihre Arbeit erneuert. Sie war aufgefahren, zitterte, ächzte, pumpte und führte wieder die gleitnassen Hände an ihre Stirn. Die Platte lief. Es kam der mittlere Teil, mit umspringendem Rhythmus, die Stelle von Kampf und Gefahr, keck, fromm und französisch. Sie ging vorüber, es folgte der Schluß, die orchestral verstärkte Reprise des Anfangs, mächtigen Klangs: »O, Herr des Himmels, hör’ mein Flehn –«
Hans Castorp hatte mit Elly zu tun. Sie bäumte sich, zog durch verengte Kehle die Luft ein, sank dann lang ausseufzend in sich zusammen und blieb still. Besorgt beugte er sich über sie, da hörte er die Stöhr mit piepender, winselnder Stimme sagen:
{1032} »Ziem – ßen –!«
Er richtete sich nicht auf. In seinen Mund trat ein bitterer Geschmack. Er hörte eine andere Stimme tief und kalt erwidern:
»Ich sehe ihn längst.«
Die Platte war abgelaufen, der letzte Bläserakkord verklungen. Aber niemand stoppte den Apparat. Leer kratzend in der Stille lief die Nadel inmitten der Scheibe weiter. Da hob denn Hans Castorp den Kopf, und seine Augen gingen, ohne suchen zu müssen, den richtigen Weg.
Es war einer mehr im Zimmer, als vordem. Dort, abseits von der Gesellschaft, im Hintergrund, wo die Reste des Rotlichtes sich fast in Nacht verloren, so daß die Augen kaum noch dahin drangen, zwischen Schreibtisch-Breitseite und spanischer Wand, auf dem gegen das Zimmer gedrehten Besucherstuhl des Doktors, wo während der Pause Elly gesessen, saß Joachim. Es war Joachim mit den schattigen Wangenhöhlen und dem Kriegsbart seiner letzten Tage, in dem die Lippen so voll und stolz sich wölbten. Angelehnt saß er und hielt ein Bein über das andere geschlagen. Auf seinem abgezehrten Gesicht erkannte man, obgleich es von einer Kopfbedeckung beschattet war, den Stempel des Leidens und auch den Ausdruck von Ernst und Strenge wieder, der es so männlich verschönt hatte. Zwei Falten standen auf seiner Stirn zwischen den Augen, die tief in knochigen Höhlen lagen, doch das beeinträchtigte nicht die Sanftmut des Blicks dieser schönen, groß-dunklen Augen, der still und freundlich spähend auf Hans Castorp, auf diesen allein, gerichtet war. Sein kleiner Kummer von ehedem, die abstehenden Ohren waren erkennbar auch unter der Kopfbedekkung, der sonderbaren Kopfbedeckung, auf die man sich nicht verstand. Vetter Joachim war nicht in Zivil; sein Säbel schien am übergeschlagenen Schenkel zu lehnen, er hielt die Hände am Griff, und etwas wie eine Pistolentasche glaubte man gleichfalls {1033} an seinem Gürtel zu unterscheiden. Doch war das auch kein richtiger Waffenrock, was er trug. Nichts Blankes noch Farbiges war daran zu bemerken, es hatte einen Litewkakragen und Seitentaschen, und irgendwo ziemlich tief saß ein Kreuz. Die Füße Joachims wirkten groß und die Beine sehr dünn; sie schienen eng eingewickelt, auf sportliche mehr, denn auf militärische Art. Und wie war das mit der Kopfbedeckung? Sie sah aus, als hätte
Weitere Kostenlose Bücher