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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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verzichtend abzukürzen, denn sie schien wirklich erbarmungswürdig schwer und über die zarten Kräfte zu gehen, denen sie auferlegt war. Wir Männer, wenn wir dem Menschlichen nicht ausweichen, kennen aus einer bestimmten Lebenslage dies unerträgliche Erbarmen, das lächerlicherweise von niemandem angenommen wird und wahrscheinlich gar nicht am Platze ist, dies empörte »Genug!«, das sich unserer Brust entringen will, obgleich »es« nicht genug sein will und darf und so oder so zu Ende geführt werden muß. Man versteht schon, daß wir von unserer Gatten- und Vaterschaft sprechen, vom Akt der Geburt, dem Ellys Ringen tatsächlich so unzweideutig und unverwechselbar glich, daß auch derjenige ihn wiedererkennen mußte, der ihn noch gar nicht kannte, wie der junge Hans Castorp, welcher also, da auch er dem Leben nicht ausgewichen war, diesen Akt voll organischer Mystik in solcher Gestalt kennen lernte, – in was für einer Gestalt! Und zu welchem Behufe! Und unter welchen Umständen! Unmöglich konnte man sie anders als skandalös bezeichnen, die Merkmale und Einzelheiten dieser animierten Wochenstube im Rotlicht, sowohl was die jungfräuliche Person der Wöchnerin in ihrem fließenden Schlafrock und mit ihren bloßen Ärmchen, wie auch was die weiteren Verhältnisse, die unaufhörliche leichtlebige Grammophon-Musik, das künstliche Geschwätz betraf, das der Halbkreis auf Befehl zu unterhalten suchte, die Zurufe fröhlich aufmunternder Art, die aus ihm immerfort an die {1027} Kämpfende ergingen: »Hallo, Holger! Mut! Es wird schon! Nicht nachlassen, Holger, und immer heraus damit, so wirst du’s schaffen!« Und keineswegs nehmen wir hier die Person und Lage des »Gatten« aus – wenn wir Hans Castorp, der ja den Wunsch getan, als den zugehörigen Gatten betrachten dürfen – des Gatten also, der die Knie der »Mutter« zwischen den seinen, ihre Hände in seinen hielt: diese Händchen, die so naß waren, wie der kleinen Leila ihre einst gewesen, so daß er beständig seinen Zugriff erneuern mußte, damit sie ihm nicht entglitten.
    Denn der Gaskamin im Rücken der hier Sitzenden strahlte Hitze.
    Mystik und Weihe? Ach nein, es ging laut und abgeschmackt zu im Rotdunkel, an welches die Augen sich nachgerade soweit gewöhnt hatten, daß sie das Zimmer so ziemlich beherrschten. Die Musik, das Rufen erinnerten an Aufpulverungsmethoden der Heilsarmee, erinnerten auch denjenigen daran, der, wie Hans Castorp, einem Gottesfest dieser aufgeräumten Zeloten noch niemals beigewohnt hatte. Mystisch, geheimnisvoll, den Fühlenden zur Frömmigkeit anhaltend, wirkte die Szene in keinerlei gespenstischem Sinn, sondern einzig in einem natürlichen, organischen – und durch welche nähere und intime Verwandtschaft, das sagten wir schon. Ellys Anstrengungen kamen wehenartig, nach Ruhezuständen, während welcher sie seitlich schlaff vom Stuhle hing, in einer Verfassung von Unzugänglichkeit, die Dr. Krokowski als »Tief-Trance« bezeichnete. Dann wieder fuhr sie auf, stöhnte, warf sich hin und her, drängte, rang mit ihren Aufsehern, flüsterte Heißes und Sinnloses an ihren Ohren, schien mit seitwärts schleudernden Bewegungen etwas aus sich hinausjagen zu wollen, knirschte mit den Zähnen und biß einmal sogar in Hans Castorps Ärmel.
    Das ging so eine Stunde und länger. Dann fand der Sitzungsleiter es im allseitigen Interesse geraten, eine Pause eintreten zu lassen. Der Tscheche Wenzel, der erleichternder Abwechslung {1028} halber den Musikapparat zuletzt geschont und sehr gewandt die Gitarre hatte schollern und tönen lassen, stellte sein Instrument beiseite. Man löste aufseufzend die Hände. Dr. Krokowski schritt zur Wand, um das Deckenlicht einzuschalten. Blendend flammte die weiße Helligkeit auf, daß alle die Nachtaugen blöde verkniffen. Elly schlummerte weit vorgebeugt, das Gesicht fast in ihrem Schoß. Man sah sie eigentümlich beschäftigt, begriffen in einem Tun, das den anderen vertraut schien, dem aber Hans Castorp verwundert und aufmerksam zusah: Einige Minuten lang fuhr sie mit der hohlen Hand in der Gegend ihrer Hüfte hin und her, – führte die Hand von sich fort und mit schöpfender oder rechender Bewegung wieder an sich heran, so, als zöge und sammle sie etwas ein. – Dann kam sie in mehrmaligem Aufzucken zu sich, blinzelte, auch sie, mit blöden Schlafaugen ins Licht und lächelte.
    Sie lächelte, – zierlich und etwas verschlossen. Das Erbarmen mit ihrer Mühsal schien in der Tat

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