Der Zauberberg
Widerwillig führen wir weitere an. Dieser und jener wird sich des rund bebrillten Schülers oder ehemaligen Schülers am Tische Frau Salomons erinnern, dieses dürftigen jungen Menschen, der die Gewohnheit hatte, sich seine Speisen auf dem Teller zu einem Kleingemengsel zusammenzuschneiden und dieses, aufgestützt, in sich hineinzuschlingen, wobei er zuweilen mit der Serviette hinter die dicken Augengläser fuhr. So hatte er, immer noch ein Schüler oder ehemaliger Schüler, all die Zeit hier gesessen, geschlungen und sich die Augen gewischt, ohne Anlaß zu einer mehr als flüchtig hinstreifenden Beachtung seiner Person zu geben. Jetzt jedoch, eines Morgens, beim ersten Frühstück, ganz überraschend und sozusagen aus heiterem Himmel, erlitt er einen Zufall und Raptus, der allgemeines Aufsehen erregte, {1036} den ganzen Speisesaal auf die Beine brachte. Es wurde laut in der Gegend, wo er saß; bleich saß er dort und schrie, und es galt der Zwergin, die bei ihm stand. »Sie lügen!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Der Tee ist kalt! Eiskalt ist mein Tee, den Sie mir gebracht haben, ich will ihn nicht, versuchen Sie ihn doch selbst, bevor Sie lügen, ob er nicht lauwarmes Spülicht ist und von anständigen Menschen überhaupt nicht zu trinken! Wie können Sie es wagen, mir eiskalten Tee zu bringen, wie können Sie auf den Gedanken verfallen und sich einreden, Sie könnten mir solches laue Gesöff vorsetzen mit auch nur einiger Aussicht, daß ich es trinke?! Ich trinke es nicht! Ich will es nicht!« kreischte er und fing an, mit beiden Fäusten auf den Tisch zu trommeln, daß alles Geschirr der Tafel klirrte und tanzte. »Ich will heißen Tee! Siedeheißen Tee will ich, das ist mein Recht vor Gott und den Menschen! Ich will es nicht, ich will brühheißen, ich will auf der Stelle sterben, wenn ich auch nur einen Schluck – – Verfluchter Krüppel!!« gellte er auf einmal, indem er gleichsam mit einem Ruck den letzten Zügel abwarf und zur äußersten Freiheit der Raserei begeistert durchstieß. Er hob die Fäuste dabei gegen Emerenzia und zeigte ihr buchstäblich seine beschäumten Zähne. Dann fuhr er fort zu trommeln, zu stampfen und sein »Ich will«, »Ich will nicht« zu heulen, – während es unterdessen im Saale wie immer ging. Furchtbare und angespannte Sympathie ruhte auf dem tobenden Schüler. Einige waren aufgesprungen und sahen ihm mit ebenfalls geballten Fäusten, zusammengebissenen Zähnen und glühenden Blicken zu. Andere saßen bleich, mit niedergeschlagenen Augen, und bebten. Dies taten sie noch, als der Schüler schon längst, in Erschöpfung versunken, vor seinem ausgewechselten Tee saß, ohne ihn zu trinken.
Was war das?
Ein Mann trat in die Berghofgemeinschaft ein, ein ehemaliger Kaufmann, dreißigjährig, schon lange febril, seit Jahren {1037} von Anstalt zu Anstalt gewandert. Der Mann war Judengegner, Antisemit, war es grundsätzlich und sportsmäßig, mit freudiger Versessenheit, – die aufgelesene Verneinung war Stolz und Inhalt seines Lebens. Er war ein Kaufmann gewesen, er war es nicht mehr, er war nichts in der Welt, aber ein Judenfeind war er geblieben. Er war sehr ernstlich krank, hustete schwer beladen und tat zwischendurch, als ob er mit der Lunge nieste, hoch, kurz, einmalig, unheimlich. Jedoch war er kein Jude, und das war das Positive an ihm. Sein Name war Wiedemann, ein christlicher Name, kein unreiner. Er hielt sich eine Zeitschrift, genannt »Die arische Leuchte«, und führte Reden wie diese:
»Ich komme ins Sanatorium X. in A.. Wie ich mich in der Liegehalle installieren will, – wer liegt links von mir im Stuhl? Der Herr Hirsch! Wer liegt rechts? Der Herr Wolf! Selbstverständlich bin ich sofort gereist« usw.
»Du hast es nötig!« dachte Hans Castorp mit Abneigung.
Wiedemann hatte einen kurzen, lauernden Blick. Es sah tatsächlich und unbildlich so aus, als hinge dicht vor seiner Nase eine Puschel, auf die er boshaft schielte, und hinter der er nichts mehr sah. Die Mißidee, die ihn ritt, war zu einem juckenden Mißtrauen, einer rastlosen Verfolgungsmanie geworden, die ihn trieb, Unreinheit, die sich in seiner Nähe versteckt oder verlarvt halten mochte, hervorzuziehen und der Schande zuzuführen. Er stichelte, verdächtigte und geiferte, wo er ging und stand. Und kurz, das Betreiben der Anprangerung alles Lebens, das nicht den Vorzug besaß, der sein einziger war, füllte seine Tage aus.
Die inneren Umstände nun, mit deren Andeutung wir eben
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