Der Zauberberg
befaßt sind, verschlimmerten das Leiden dieses Mannes außerordentlich; und da es nicht fehlen konnte, daß er auch hier auf Leben stieß, das den Nachteil aufwies, von dem er, Wiedemann, frei war, so kam es unter dem Einfluß jener Umstände zu einer Elendsszene, der Hans Castorp beizuwohnen hatte, {1038} und die uns als weiteres Beispiel für das zu Schildernde dienen muß.
Denn es war da ein anderer Mann, – zu entlarven gab es nichts, was ihn betraf, der Fall war klar. Dieser Mann hieß Sonnenschein, und da man nicht schmutziger heißen konnte, so bildete Sonnenscheins Person vom ersten Tage an die Puschel, die vor Wiedemanns Nase hing, auf die er kurz und boshaft schielte, und nach der er mit der Hand schlug, fast weniger, um sie zu verjagen, als um sie ins Pendeln zu versetzen, damit sie ihn desto besser reize.
Sonnenschein, Kaufmann, wie der andere, von Hause aus, war ebenfalls recht ernstlich krank und krankhaft empfindlich. Ein freundlicher Mann, nicht dumm und selbst scherzhaft von Natur, haßte er Wiedemann für seine Sticheleien und seine Puschelschläge auch seinerseits bald bis zum Leiden, und eines Nachmittags lief alles in der Halle zusammen, weil Wiedemann und Sonnenschein einander dort auf ausschweifende und tierische Weise in die Haare geraten waren.
Es war ein Anblick voll Grauen und Jammer. Sie katzbalgten sich wie kleine Jungen, aber mit der Verzweiflung erwachsener Männer, mit denen es dahin gekommen ist. Sie gingen einander mit den Krallen ins Gesicht, hielten sich an Nase und Kehle, während sie aufeinander losschlugen, umschlangen sich, wälzten sich in furchtbarem und radikalem Ernste am Boden, spieen nach einander, traten, stießen, zerrten, hieben und schäumten. Herbeigeeiltes Bureaupersonal trennte mit Mühe die Verbissenen und Verkrallten. Wiedemann, speichelnd und blutend, wutverblödeten Angesichts, zeigte das Phänomen der zu Berge stehenden Haare. Hans Castorp hatte das noch nie gesehen und nicht geglaubt, daß es eigentlich vorkomme. Die Haare standen Herrn Wiedemann starr und steif zu Berge, und so stürzte er davon, während Herr Sonnenschein, das eine Auge in Bläue verschwunden und eine blutende Lücke in dem Kranz {1039} lockigen schwarzen Haares, das seinen Schädel umgab, ins Bureau geführt wurde, wo er sich niederließ und bitterlich in seine Hände weinte.
So ging es mit Wiedemann und Sonnenschein. Alle, die es sahen, bebten noch stundenlang. Es ist vergleichsweise eine Wohltat, im Gegensatz zu solcher Misere von einem wahren Ehrenhandel zu erzählen, der ebenfalls dieser Periode angehört, und der seinen Namen allerdings, der formalen Feierlichkeit wegen, mit der er gehandhabt wurde, bis zur Lächerlichkeit verdiente. Hans Castorp wohnte ihm in seinen einzelnen Phasen nicht bei, sondern belehrte sich über den verwickelten und dramatischen Hergang nur an der Hand von Dokumenten, Erklärungen und Protokollen, die, diese Sache betreffend, im Hause Berghof und außerhalb seiner, nämlich nicht nur am Ort, im Kanton, im Lande, sondern auch im Auslande und in Amerika abschriftlich vertrieben und auch solchen zum Studium zugestellt wurden, von denen ohne weiteres sicher sein mußte, daß sie der Angelegenheit auch nicht einen Deut von Teilnahme widmen konnten und wollten.
Es war eine polnische Angelegenheit, ein Ehrentrubel, entstanden im Schoße der polnischen Gruppe, die sich kürzlich im Berghof zusammengefunden hatte, einer ganzen kleinen Kolonie, die den Guten Russentisch besetzt hielt – (Hans Castorp, dies hier einzuflechten, saß nicht mehr dort, sondern war mit der Zeit an den der Kleefeld, dann an den der Salomon und dann an den Fräulein Levis gewandert). Die Gesellschaft war dermaßen elegant und ritterlich gewichst, daß man nur die Brauen emporziehen und sich innerlich auf alles gefaßt machen konnte, – ein Ehepaar, ein Fräulein dazu, das mit einem der Herren in freundschaftlichen Beziehungen stand, und sonst lauter Kavaliere. Sie hießen von Zutawski, Cieszynski, von Rosinski, Michael Lodygowski, Leo von Asarapetian und noch anders. Im Restaurant des Berghofs nun, beim Champagner, {1040} hatte ein gewisser Japoll in Gegenwart zweier anderer Kavaliere über die Gattin des Herrn von Zutawski, wie auch über das dem Herrn Lodygowski nahestehende Fräulein namens Kryloff Unwiederholbares geäußert. Hieraus ergaben sich die Schritte, Taten und Formalien, die den Inhalt der zur Verteilung und Versendung gelangenden Schriftsätze bildeten. Hans Castorp
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