Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
in dieser Sphäre ihre Erlebnisse mit den Subjektiv-Objekten als real behandle. Greife sie aber darüber hinaus ins ewige Rätsel, indem sie sogenannte Kosmologie, Kosmogonie treibe, so höre der Spaß auf, und die Anmaßung komme auf den Gipfel ihrer Ungeheuerlichkeit. Welch ein lästerlicher Unsinn, im Grunde, die »Entfernung« irgendeines Sternes von der Erde nach Trillionen Kilometern oder auch Lichtjahren zu berechnen und sich einzubilden, mit solchem Zifferngeflunker verschaffe man dem Menschengeist Einblick ins Wesen der Unendlichkeit und Ewigkeit, – während doch Unendlichkeit mit Größe und Ewigkeit mit Dauer und Zeitdistanzen überhaupt und schlechterdings nichts zu schaffen hätten, sondern, weit entfernt, naturwissenschaftliche Begriffe zu sein, vielmehr geradezu die {1050} Aufhebung dessen bedeuteten, was wir Natur nennten! Wahrhaftig, die Einfalt eines Kindes, das glaube, die Sterne seien Löcher im Himmelszelt, durch welche die ewige Klarheit scheine, sei ihm vieltausendmal lieber, als das ganze hohle, widersinnige und anmaßende Geschwätz, das die monistische Wissenschaft vom »Weltall« verübe!
    Settembrini fragte ihn, ob er, seinesteils, in betreff der Sterne jenen Glauben hege. Worauf er antwortete, er behalte sich jede Demut und Freiheit der Skepsis vor. Daraus war wieder einmal zu ersehen, was er unter »Freiheit« verstand, und wohin ein solcher Begriff davon zu führen vermochte. Und wenn nur nicht Herr Settembrini Grund gehabt hätte, zu fürchten, Hans Castorp möchte das alles hörenswert finden!
    Naphtas Bosheit lag auf der Lauer nach Gelegenheiten, die Schwächen des naturbezwingenden Fortschritts zu erspähen, seinen Trägern und Pionieren menschliche Rückfälle ins Irrationale nachzuweisen. Aviatiker, Flieger, sagte er, seien meist recht üble und verdächtige Individuen, vor allem sehr abergläubisch. Sie nähmen Glücksschweine, eine Krähe mit an Bord, sie spuckten dreimal dahin und dorthin, sie zögen die Handschuhe von glücklichen Fahrern an. Wie sich so primitive Unvernunft mit der ihrem Beruf zum Grunde liegenden Weltanschauung reime? – Der Widerspruch, den er aufzeigte, ergötzte ihn, bereitete ihm Genugtuung; er hielt sich lange darüber auf … Aber wir greifen im Unerschöpflichen hin und her nach Proben von Naphtas Feindseligkeit, während es nur allzu Gegenständliches zu erzählen gibt.
    Eines Nachmittags im Februar vereinigten sich die Herren, nach Monstein auszufliegen, einem Orte, anderthalb Stunden Schlittenfahrt von der Stätte ihres Alltags entfernt. Es waren Naphta und Settembrini, Hans Castorp, Ferge und Wehsal. In zwei einspännigen Schlitten fuhren sie, Hans Castorp mit dem Humanisten, Naphta mit Ferge und Wehsal, der neben dem {1051} Kutscher saß, um 3 Uhr, gut eingehüllt, vom Domizil der Auswärtigen ab und nahmen unter Schellengeläut, das so freundlich durch schneestille Landschaft geht, ihren Weg an der rechten Lehne hin, vorbei an Frauenkirch und Glaris, gegen Süden. Schneebedeckung rückte rasch aus dieser Himmelsrichtung vor, so daß bald nur noch hinten über der Rhätikonkette ein blaßblauer Streifen zu sehen war. Der Frost war stark, das Gebirge nebelig. Die Straße, die sie führte, schmale, geländerlose Plattform zwischen Wand und Abgrund, hob sich steil ins Tannenwilde. Es ging schrittweise. Abfahrende Rodler kamen oft auf sie zu, die bei der Begegnung absteigen mußten. Hinter Biegungen klang zart und warnend fremdes Geläute auf, Schlitten, mit zwei Pferden hintereinander bespannt, gingen vorbei, und das Ausweichen forderte Behutsamkeit. Nahe dem Ziele tat ein schöner Blick auf eine felsige Partie der Zügenstraße sich auf. Man stieg aus den Decken vor dem kleinen Gasthaus von Monstein, das sich »Kurhaus« nannte, und, die Schlitten zurücklassend, ging man noch einige Schritte weiter, um gegen Südosten nach dem »Stulsergrat« auszuschauen. Die Riesenwand, dreitausend Meter hoch, war nebelverhüllt. Nur irgendwo ragte eine himmelhohe Zacke, überirdisch, walhallmäßig fern und heilig unzugänglich aus dem Gedünst hervor. Hans Castorp bewunderte das sehr und forderte auch die andern auf, es zu tun. Er war es, der mit Unterwerfungsgefühlen das Wort »unzugänglich« aussprach und damit Herrn Settembrini Anlaß gab, zu betonen, daß jener Fels natürlich sehr wohl betreten sei. Überhaupt gäbe es das kaum noch: Unzugänglichkeit und irgendwelche Natur, auf die der Mensch nicht schon seinen Fuß gesetzt habe. Eine kleine

Weitere Kostenlose Bücher