Der Zauberberg
Prinzip als vorbeugendes Mittel gegen innen- und außenpolitische Katastrophen empfahl, da zeigte es sich, daß Naphta, der kürzlich noch das Geistige für zu gut befunden hatte, als daß seine irdische Ausprägung je gelingen könne und solle, eben dies Geistige selbst unter Zweifel zu setzen und zu verunglimpfen bestrebt war. Gerechtigkeit! War sie ein anbetungswürdiger Begriff? Ein göttlicher? Ein Begriff ersten Ranges? Gott und Natur waren ungerecht, sie hatten Lieblinge, sie übten Gnadenwahl, schmückten den einen mit gefährlicher Auszeichnung und bereiteten dem anderen ein leichtes, gemeines Los. Und der wollende Mensch? Für ihn war Gerechtigkeit einerseits eine lähmende Schwäche, war der Zweifel selbst – und auf der anderen Seite eine Fanfare, die zu unbedenklichen Taten rief. Da also der Mensch, um im Sittlichen zu bleiben, stets »Gerechtigkeit« in diesem Sinne durch »Gerechtigkeit« in jenem Sinne korrigieren mußte, – wo blieben Unbedingtheit und Radikalismus des Begriffs? Übrigens war man »gerecht« gegen den einen Standpunkt
oder
gegen den anderen. Der Rest war Liberalismus, und kein Hund war heutzutage mehr damit vom Ofen zu locken. Gerechtigkeit war selbstverständlich eine leere Worthülse der Bürgerrhetorik, und um zum Handeln zu kom {1048} men, müsse man vor allen Dingen wissen, welche Gerechtigkeit man meine: diejenige, die jedem das Seine, oder diejenige, die allen das Gleiche geben wolle.
Wir haben da nur auf gut Glück aus dem Uferlosen ein Beispiel herausgegriffen dafür, wie er es darauf anlegte, die Vernunft zu stören. Aber noch schlimmer wurde es, wenn er auf die Wissenschaft zu sprechen kam, – an die er nicht glaubte. Er glaube nicht an sie, sagte er, denn es stehe dem Menschen völlig frei, an sie zu glauben oder nicht. Sie sei ein Glaube, wie jeder andere, nur schlechter und dümmer als jeder andere, und das Wort »Wissenschaft« selbst sei der Ausdruck des stupidesten Realismus, der sich nicht schäme, die mehr als fragwürdigen Spiegelungen der Objekte im menschlichen Intellekt für bare Münze zu nehmen oder auszugeben und die geist- und trostloseste Dogmatik daraus zu bereiten, die der Menschheit je zugemutet worden sei. Ob etwa nicht der Begriff einer an und für sich existierenden Sinnenwelt der lächerlichste aller Selbstwidersprüche sei? Aber die moderne Naturwissenschaft als Dogma lebe einzig und allein von der metaphysischen Voraussetzung, daß die Erkenntnisformen unserer Organisation, Raum, Zeit und Kausalität, in denen die Erscheinungswelt sich abspiele, reale Verhältnisse seien, die unabhängig von unserer Erkenntnis existierten. Diese monistische Behauptung sei die nackteste Unverschämtheit, die man dem Geiste je geboten. Raum, Zeit und Kausalität, das heiße auf monistisch: Entwicklung, – und da habe man das Zentraldogma der freidenkerisch-atheistischen Afterreligion, womit man das erste Buch Mosis außer Kraft zu setzen und einer verdummenden Fabel aufklärendes Wissen entgegenzustellen meine, als ob Haeckel bei der Entstehung der Erde zugegen gewesen sei. Empirie! Der Weltäther sei wohl exakt? Das Atom, dieser nette mathematische Scherz des »kleinsten, unteilbaren Teilchens« – bewiesen? Die Lehre von der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit fuße {1049} sicherlich auf Erfahrung? In der Tat, man werde, ein wenig Logik vorausgesetzt, zu lustigen Erfahrungen und Ergebnissen gelangen mit dem Dogma von der Unendlichkeit und Realität des Raumes und der Zeit: nämlich zum Ergebnis des Nichts. Nämlich zur Einsicht, daß Realismus der wahre Nihilismus sei. Warum? Aus dem einfachen Grunde, weil das Verhältnis jeder beliebigen Größe zum Unendlichen gleich null sei. Es gebe keine Größe im Unendlichen und weder Dauer noch Veränderung in der Ewigkeit. Im räumlich Unendlichen könne es, da jede Distanz dort mathematisch gleich null sei, nicht einmal zwei Punkte nebeneinander, geschweige denn Körper, geschweige denn gar Bewegung geben. Dies stelle er, Naphta, fest, um der Dreistigkeit zu begegnen, mit der die materialistische Wissenschaft ihre astronomischen Flausen, ihr windiges Geschwätz vom »Universum« für absolute Erkenntnis ausgäbe. Beklagenswerte Menschheit, die sich durch ein prahlerisches Aufgebot nichtiger Zahlen ins Gefühl eigener Nichtigkeit habe drängen, um das Pathos der eigenen Wichtigkeit habe bringen lassen! Denn es möge noch leidlich heißen, wenn menschliche Vernunft und Erkenntnis sich im Irdischen hielten und
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