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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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niederblickten. Den heiteren Spott, den er selbst vermöge der herrschenden inneren Umstände nicht aufbrachte, von Herrn Settembrini wenigstens hatte er ihn erwartet. Aber auch über den klaren Geist des Maurers übte die umlaufende Infektion, die Hans Castorp beobachtete, offenbar eine Gewalt, die ihm das Lachen verschlug, ihn für die aufpeitschenden Reize des Ohrfeigenhandels ernstlich empfänglich machte; und außerdem verdüsterte ihn, den Mann des Lebens, sein langsam und unter foppenden Rückschlägen zum Guten, aber unaufhaltsam sich verschlechternder Gesundheitszustand, den er verwünschte, und dessen er sich ingrimmig und mit Selbstverachtung schämte, der ihn aber um diese Zeit schon alle paar Tage zwang, das Bett zu hüten.
    Naphta, seinem Hausgenossen und Widersacher, erging es nicht besser. Auch in seinem organischen Innern schritt die Krankheit fort, die der physische Grund – oder muß man sagen: Vorwand gewesen, weshalb seine Ordenslaufbahn ein so verfrühtes Ende genommen, und die hohen und dünnen Bedingungen, unter denen man lebte, konnten ihrer Ausbreitung nicht Einhalt tun. Auch er war oft bettlägerig; der Tellersprung seiner Stimme klapperte stärker, wenn er sprach, und er sprach bei erhöhtem Fieber mehr noch, schärfer und beißender als ehedem. Jene ideellen Widerstände gegen Krankheit und Tod, deren Niederlage vor der Übergewalt einer niederträchtigen Natur Herrn Settembrini so schmerzte, mußten dem kleinen Naphta fremd sein, und seine Art, die Verschlimmerung seines Körperzustandes aufzunehmen, war denn auch nicht Trauer und Gram, sondern eine höhnische Aufgeräumtheit und Angriffslust sondergleichen, eine Sucht nach geistiger Bezweifelung, Verneinung und Verwirrung, die die Melancholie des anderen aufs schwerste reizte und ihre intellektuellen Streitig {1046} keiten täglich verschärfte. Hans Castorp, natürlich, konnte nur von denen reden, denen er beiwohnte. Aber er war so ziemlich gewiß, daß er keine versäumte, daß seine, des pädagogischen Objektes, Gegenwart vonnöten war, um bedeutende Kolloquien zu entzünden. Und wenn er Herrn Settembrini nicht den Kummer ersparte, Naphtas Bosheiten hörenswert zu finden, so mußte er doch zugeben, daß sie nachgerade alles Maß und häufig genug die Grenze des geistig Gesunden überschritten.
    Dieser Kranke besaß nicht die Kraft oder den guten Willen, sich über die Krankheit zu erheben, sondern sah die Welt in ihrem Bilde und Zeichen. Zum Ingrimm Herrn Settembrinis, der den lauschenden Zögling am liebsten aus dem Zimmer gewiesen oder ihm die Ohren zugehalten hätte, erklärte er die Materie für ein bei weitem zu schlechtes Material, um den Geist darin verwirklichen zu können. Dies anzustreben, sei eine Narrheit. Was komme dabei heraus? Eine Fratze! Das Wirklichkeitsergebnis der gepriesenen französischen Revolution sei der kapitalistische Bourgeoisstaat – eine schöne Bescherung! die man in der Weise zu verbessern hoffe, daß man den Greuel universal mache. Die Weltrepublik, das werde das Glück sein, sicher! Fortschritt? Ach, es handele sich um den berühmten Kranken, der beständig die Lage wechsele, weil er sich Erleichterung davon verspreche. Der uneingestandene, aber heimlich ganz allgemein verbreitete Wunsch nach Krieg sei davon ein Ausdruck. Er werde kommen, dieser Krieg, und das sei gut, obgleich er anderes zeitigen werde, als seine Veranstalter sich davon versprächen. Naphta verachtete den bürgerlichen Sicherheitsstaat. Er nahm Veranlassung, sich darüber zu äußern, als man im Herbst auf der Hauptstraße spazieren ging und bei beginnendem Regen plötzlich und wie auf Kommando alle Welt Regenschirme über die Köpfe hielt. Das war ihm ein Symbol für die Feigheit und ordinäre Verweichlichung, die das {1047} Ergebnis der Zivilisation seien. Ein Zwischenfall und Menetekel wie der Untergang des Dampfers »Titanic« wirke atavistisch, aber wahrhaft erquicklich. Danach großes Geschrei nach mehr Sicherheit des »Verkehrs«. Überhaupt immer die größte Empörung, sobald die »Sicherheit« bedroht scheine. Das sei jämmerlich und reime sich in seiner humanitären Schlaffheit recht artig auf die wölfische Krudität und Niedertracht des wirtschaftlichen Schlachtfeldes, das der Bürgerstaat darstelle. Krieg, Krieg! Er sei einverstanden, und die allgemeine Lüsternheit danach scheine ihm vergleichsweise ehrenwert.
    Sobald aber etwa Herr Settembrini das Wort »Gerechtigkeit« ins Gespräch einführte, und dieses hohe

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