Der Zauberberg
sei Individualismus, eins und auch wieder das andere, ein Wort für manches.
Aber das müsse man einräumen, daß Freiheitspathos die glänzendsten Freiheitsfeinde, die geistreichsten Ritter des Vergangenen im Kampf mit dem andachtslos zersetzenden Fortschritt erzeugt habe. Und Naphta nannte Arndt, der den Industrialismus verflucht und den Adelsstand verherrlicht, nannte Görres, der die »Christliche Mystik« verfaßt habe. Und ob denn Mystik etwa nichts mit Freiheit zu tun habe? Ob sie etwa nicht anti-scholastisch, anti-dogmatisch, anti-priesterlich gewesen sei? Man sei freilich gezwungen, in der Hierarchie eine Freiheitsmacht zu erblicken, denn sie habe der schrankenlosen Monarchie einen Damm entgegengesetzt. Die Mystik des ausgehenden Mittelalters aber habe ihr freiheitliches Wesen als Vorläuferin der Reformation bewährt, – der Reformation, he, he, die ihrerseits ein unauflösliches Filzwerk von Freiheit und mittelalterlichem Rückschlag gewesen sei …
Luthers Tat … Ei ja, sie habe den Vorzug, mit derbster Anschaulichkeit das fragwürdige Wesen der Tat selbst, der Tat überhaupt zu demonstrieren. Ob Naphtas Zuhörer wisse, was eine Tat sei? Eine Tat sei beispielsweise die Ermordung des Staatsrats Kotzebue durch den Burschenschaftler Sand gewesen. Was habe dem jungen Sand, kriminalistisch zu reden, »die Waffe in die Hand gedrückt«? Freiheitsbegeisterung, selbstverständlich. Sehe man jedoch näher hin, so sei es eigentlich nicht diese, es seien vielmehr Moralfanatismus und der Haß {1055} auf unvölkische Frivolität gewesen. Allerdings nun wieder habe Kotzebue in russischen Diensten, im Dienste der Heiligen Allianz also, gestanden; und so habe Sand denn doch wohl für die Freiheit gestochen, – was freilich aufs neue der Unwahrscheinlichkeit verfalle kraft des Umstandes, daß sich unter seinen nächsten Freunden Jesuiten befunden hätten. Kurzum, was immer die Tat auch sein möge, auf jeden Fall sei sie ein schlechtes Mittel, sich deutlich zu machen, und zur Bereinigung geistiger Probleme trage sie auch nur wenig bei.
»Darf ich mir die Erkundigung erlauben, ob Sie mit Ihren
Schlüpfrigkeiten
bald zu Rande zu kommen gedenken?«
Herr Settembrini hatte es gefragt und zwar mit Schärfe. Er hatte gesessen, mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt und den Schnurrbart gedreht. Jetzt war es genug. Seine Geduld war zu Ende. Aufrecht saß er, mehr als aufrecht: – sehr bleich, hatte er sich sozusagen im Sitzen auf die Zehen gestellt, so daß nur noch seine Schenkel den Stuhlsitz berührten, und so begegnete er blitzenden schwarzen Auges dem Feinde, der sich mit geheucheltem Erstaunen nach ihm umgewandt hatte.
»
Wie
beliebten Sie sich auszudrücken?« lautete Naphtas Gegenfrage …
»Ich beliebte«, sagte der Italiener und schluckte hinunter, »– ich beliebe mich dahin auszudrücken, daß ich entschlossen bin, Sie daran zu hindern, eine ungeschützte Jugend noch länger mit Ihren Zweideutigkeiten zu behelligen!«
»Mein Herr, ich fordere Sie auf, nach Ihren Worten zu sehen!«
»Einer solchen Aufforderung, mein Herr, bedarf es nicht. Ich bin gewohnt, nach meinen Worten zu sehen, und mein Wort wird präzis den Tatsachen gerecht, wenn ich ausspreche, daß Ihre Art, die ohnehin schwanke Jugend geistig zu verstören, zu verführen und sittlich zu entkräften, eine
Infamie
und mit Worten nicht streng genug zu züchtigen ist …«
Bei dem Wort »Infamie« schlug Settembrini mit der flachen {1056} Hand auf den Tisch und stand, seinen Stuhl zurückschiebend, nun vollends auf, – das Zeichen für alle übrigen, ein Gleiches zu tun. Von anderen Tischen blickte man aufhorchend herüber, – von einem eigentlich nur, die Schweizer Gäste waren schon aufgebrochen, und nur die Holländer lauschten mit verdutzten Mienen auf den ausbrechenden Wortwechsel.
Sie standen also alle steif aufrecht an unserem Tisch: Hans Castorp und die beiden Gegner und ihnen gegenüber Ferge und Wehsal. Alle fünf waren sie blaß, mit erweiterten Augen und zuckenden Mündern. Hätten nicht die drei Unbeteiligten den Versuch machen können, beschwichtigend einzuwirken, mit einem Scherzwort die Spannung zu lösen, durch irgendein menschliches Zureden alles zum Guten zu wenden? Sie unternahmen ihn nicht, diesen Versuch. Die inneren Umstände hinderten sie daran. Sie standen und bebten, und unwillkürlich ballten ihre Hände sich zu Fäusten. Selbst A. K. Ferge, dem alles Höhere erklärtermaßen völlig fern lag und der von
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