Der Zauberberg
unterscheiden, wissen Sie. Ich habe mich durchaus nicht gelangweilt, – dazu ist es doch ein allzu munterer Betrieb bei Ihnen hier oben. Man bekommt so viel Neues und Merkwürdiges zu hören und zu sehen … Und doch ist mir auch andererseits wieder, als ob ich nicht nur einen Tag, sondern schon längere Zeit hier wäre, – geradezu, als ob ich hier schon älter und klüger geworden wäre, so kommt es mir vor.«
»Klüger auch?« sagte Settembrini und zog die Brauen hoch. »Wollen Sie mir die Frage erlauben: Wie alt sind Sie eigentlich?«
Aber siehe da, Hans Castorp wußte es nicht! Er wußte im Augenblick nicht, wie alt er sei, trotz heftiger, ja verzweifelter Anstrengungen, sich darauf zu besinnen. Um Zeit zu gewinnen, ließ er sich die Frage wiederholen und sagte dann:
»… Ich … wie alt? Ich bin natürlich im vierundzwanzigsten. Demnächst werde ich vierundzwanzig. Verzeihen Sie, ich bin müde!« sagte er. »Und Müdigkeit ist noch gar nicht der Ausdruck für meinen Zustand. Kennen Sie das, wenn man träumt und weiß, daß man träumt und zu erwachen sucht und nicht aufwachen kann? Genau so ist mir zumut. Unbedingt muß ich Fieber haben, anders kann ich es mir gar nicht erklären. Wollen Sie glauben, daß ich bis zu den Knien hinauf kalte Füße habe? Wenn man so sagen darf, denn die Knie sind ja natürlich nicht mehr die Füße, – entschuldigen Sie, ich bin im höchsten Grade konfus, und das ist ja auch am Ende kein Wunder, wenn man schon am frühen Morgen mit dem … mit dem Pneumothorax angepfiffen wird und nachher die Reden dieses Herrn Albin mit anhört und obendrein in horizontaler Lage. Denken Sie, mir ist immer, als dürfte ich meinen fünf Sinnen nicht mehr recht trauen, und ich muß sagen, das geniert mich noch mehr, als die Hitze im Gesicht und die kalten Füße. Sagen Sie mir offen: halten Sie es für möglich, daß Frau Stöhr achtundzwanzig Fischsaucen zu machen versteht? Ich {133} meine nicht, ob sie sie wirklich machen kann – das halte ich für ausgeschlossen – sondern ob sie es auch nur wirklich vorhin bei Tische behauptet hat oder ob es mir nur so vorkam, – nur das möchte ich wissen.«
Settembrini sah ihn an. Er schien nicht zugehört zu haben. Wieder hatten seine Augen »sich festgesehen«, waren in eine fixe und blinde Einstellung geraten, und wie heute morgen sagte er je dreimal »so, so, so« und »sieh, sieh, sieh«, – spöttisch-nachdenklich und mit scharfem S-Laut.
»Vierundzwanzig sagten Sie?« fragte er dann …
»Nein, achtundzwanzig!« sagte Hans Castorp. »Achtundzwanzig Fischsaucen! Nicht Saucen im allgemeinen, sondern speziell Fischsaucen, das ist das Ungeheuerliche.«
»Ingenieur!« sagte Settembrini zornig und ermahnend. »Nehmen Sie sich zusammen und lassen Sie mich mit diesem liederlichen Unsinn in Ruhe! Ich weiß nichts davon und will nichts davon wissen. – Im vierundzwanzigsten, sagten Sie? Hm … gestatten Sie mir noch eine Frage oder einen unmaßgeblichen Vorschlag, wenn Sie so wollen. Da der Aufenthalt Ihnen nicht zuträglich zu sein scheint, da Sie sich körperlich und, wenn mich nicht alles täuscht, auch seelisch nicht wohl bei uns befinden, – wie wäre es denn da, wenn Sie darauf verzichteten, hier älter zu werden, kurz, wenn Sie noch heute nacht wieder aufpackten und sich morgen mit den fahrplanmäßigen Schnellzügen auf- und davonmachten?«
»Sie meinen, ich sollte abreisen?« fragte Hans Castorp … »Wo ich gerade erst angekommen bin? Aber nein, wie will ich denn urteilen nach dem ersten Tage!«
Zufällig blickte er ins Nebenzimmer bei diesen Worten und sah dort Frau Chauchat von vorn, ihre schmalen Augen und breiten Backenknochen. Woran, dachte er, woran und an wen in aller Welt erinnert sie mich nur. Aber sein müder Kopf wußte die Frage trotz einiger Anstrengung nicht zu beantworten.
{134} »Natürlich fällt es mir nicht so ganz leicht, mich bei Ihnen hier oben zu akklimatisieren,« fuhr er fort, »das war doch vorauszusehen, und deshalb gleich die Flinte ins Korn zu werfen, nur weil ich vielleicht ein paar Tage ein bißchen verwirrt und heiß sein werde, da müßte ich mich ja schämen, geradezu feig würde ich mir vorkommen und außerdem ginge es gegen alle Vernunft, – nein, sagen Sie selbst …«
Er sprach auf einmal sehr eindringlich, mit erregten Schulterbewegungen, und schien den Italiener bestimmen zu wollen, seinen Vorschlag in aller Form zurückzunehmen.
»Ich salutiere der Vernunft«, antwortete
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