Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
markieren, daß ich nur zu Besuch bin bei euch hier oben. Ich sitze hier noch etwas und rauche meine Zigarre, wie es sich gehört. Sie schmeckt miserabel, aber ich weiß, daß sie gut ist, und das muß mir für heute genügen. Jetzt ist die Uhr gleich neun, – allerdings, leider ist es noch nicht mal neun. Aber wenn es halb zehn ist, dann ist es ja schon so weit, daß man halbwegs normalerweise zu Bett gehen kann.«
    Ein Frostschauer überlief ihn, – einer und dann mehrere rasch hintereinander. Hans Castorp sprang auf und lief zum Wandthermometer, als gelte es, ihn in flagranti zu ertappen. Nach Réaumur waren neun Grad im Zimmer. Er faßte die Röhren an und fand sie tot und kalt. Er murmelte etwas Ungeordnetes, des Inhalts, wenn auch August sei, so sei es doch {137} eine Schande, daß nicht geheizt werde, denn nicht auf den Monatsnamen komme es an, den man eben schreibe, sondern auf die herrschende Temperatur, und die sei so, daß ihn friere wie einen Hund. Aber sein Gesicht brannte. Er setzte sich wieder, stand nochmals auf, bat murmelnd um Erlaubnis, Joachims Bettdecke nehmen zu dürfen und breitete sie sich, im Stuhle sitzend, über den Unterkörper. So saß er, hitzig und fröstelnd, und quälte sich mit der widerlich schmeckenden Zigarre. Ein großes Elendsgefühl überkam ihn; ihm war, als sei es ihm noch nie im Leben so schlecht ergangen. »Das ist ja ein Elend!« murmelte er. Dazwischen aber berührte ihn plötzlich ein ganz absonderlich ausschweifendes Gefühl der Freude und Hoffnung, und als er es empfunden hatte, saß er nur noch da, um zu warten, ob es nicht vielleicht wiederkäme. Es kam aber nicht wieder; nur das Elend blieb. Und so stand er denn schließlich auf, warf Joachims Decke aufs Bett zurück, murmelte verzerrten Mundes etwas wie »Gute Nacht!« und »Erfriere nur nicht!« und »Zum Frühstück holst du mich ja wohl wieder« und schwankte über den Korridor in sein Zimmer hinüber.
    Beim Auskleiden sang er vor sich hin, jedoch nicht aus Fröhlichkeit. Mechanisch und ohne den rechten Bedacht erledigte er die kleinen Handgriffe und kulturellen Pflichten der Nachttoilette, goß hellrotes Mundwasser aus dem Reiseflakon ins Glas und gurgelte diskret, wusch sich die Hände mit seiner guten und milden Veilchenseife und zog das lange Batisthemd an, das auf der Brusttasche mit den Buchstaben H C bestickt war. Dann legte er sich und löschte das Licht, indem er seinen heißen, verstörten Kopf auf das Sterbekissen der Amerikanerin zurückfallen ließ.
    Aufs bestimmteste hatte er erwartet, daß er sogleich in Schlaf sinken werde, doch stellte sich das als Irrtum heraus, und seine Lider, die er vorhin kaum offenzuhalten vermocht hatte, – jetzt {138} wollten sie durchaus nicht geschlossen bleiben, sondern öffneten sich unruhig zuckend, sobald er sie senkte. Es war noch nicht seine gewohnte Schlafenszeit, sagte er sich, und dann hatte er wohl tagüber zuviel gelegen. Auch wurde draußen ein Teppich geklopft, – was ja wenig wahrscheinlich und in der Tat überhaupt nicht der Fall war; sondern es erwies sich, daß sein Herz es war, dessen Schlag er außer sich und weit fort im Freien hörte, genau so, als werde dort draußen ein Teppich mit einem geflochtenen Rohrklopfer bearbeitet.
    Es war im Zimmer noch nicht völlig dunkel geworden; der Schein der Lämpchen draußen in den Logen, bei Joachim und bei dem Paare vom Schlechten Russentisch, fiel durch die offene Balkontür herein. Und während Hans Castorp mit blinzelnden Lidern auf dem Rücken lag, erneute sich ihm plötzlich ein Eindruck, ein einzelner des Tages, eine Beobachtung, die er mit Schrecken und Zartgefühl sogleich zu vergessen gesucht hatte. Es war der Ausdruck, den Joachims Gesicht angenommen hatte, als von Marusja und ihren körperlichen Eigenschaften die Rede gewesen war, – diese ganz eigentümlich klägliche Verzerrung seines Mundes nebst fleckigem Erblassen seiner gebräunten Wangen. Hans Castorp verstand und durchschaute, was es bedeutete, verstand und durchschaute es auf eine so neue, eingehende und intime Art, daß der Rohrklopfer da draußen seine Schläge sowohl der Schnelligkeit wie der Stärke nach verdoppelte und beinahe die Klänge des Abendständchens in »Platz« übertäubte – denn es war wieder Konzert in jenem Hotel dort unten; eine symmetrisch gebaute und abgeschmackte Operettenmelodie klang durch das Dunkel herüber, und Hans Castorp pfiff sie im Flüstertone mit (man kann ja flüsternd pfeifen), während er

Weitere Kostenlose Bücher