Der Zauberberg
darunter Herr Albin und Hermine Kleefeld. Ferner gab es ein paar unterhaltende optische Gegenstände im ersten Salon: einen stereoskopischen Guckkasten, durch dessen Linsen man die in seinem Innern aufgestellten Photographien, zum Beispiel einen venezianischen Gondolier, in starrer und blutloser Körperlichkeit erblickte; zweitens ein fernrohrförmiges Kaleidoskop, an dessen Linse man ein Auge legte, um sich, nur durch leichte Handhabung eines Rades, buntfarbige Sterne und Arabesken in zauberhafter Abwechslung vorzugaukeln; eine drehende Trommel endlich, in die man kinematographische {130} Filmstreifen legte und durch deren Öffnungen, wenn man seitlich hineinsah, ein Müller, der sich mit einem Schornsteinfeger prügelte, ein Schulmeister, einen Knaben züchtigend, ein springender Seiltänzer und ein Bauernpärchen im Ländlertanz zu beobachten waren. Hans Castorp, die kalten Hände auf den Knien, blickte längere Zeit in jeden der Apparate. Er verweilte sich auch ein wenig am Bridgetische, wo der unheilbare Herr Albin mit hängenden Mundwinkeln und weltmännisch wegwerfenden Bewegungen die Karten handhabte. In einem Winkel saß Dr. Krokowski, begriffen in frischem und herzlichem Gespräch mit einem Halbkreise von Damen, zu welchem Frau Stöhr, Frau Iltis und Fräulein Levi gehörten. Die Inhaber des Guten Russentisches hatten sich in den anstoßenden kleineren Salon zurückgezogen, der nur durch Portieren vom Spielzimmer getrennt war, und bildeten dort eine intime Clique. Es waren außer Madame Chauchat: ein blondbärtiger, schlaffer Herr mit konkavem Brustkasten und glotzenden Augäpfeln; ein tief brünettes Mädchen von originellem und humoristischem Typus, mit goldenen Ohrringen und wirrem Wollhaar; ferner Dr. Blumenkohl, der sich ihnen zugesellt hatte, und noch zwei hängeschultrige Jünglinge. Madame Chauchat trug ein blaues Kleid mit weißem Spitzenkragen. Sie saß, als Mittelpunkt ihrer Gruppe, auf dem Sofa hinter dem runden Tisch, im Hintergrunde des kleinen Gemaches, das Gesicht dem Spielzimmer zugewandt. Hans Castorp, der die ungezogene Frau nicht ohne Mißbilligung betrachten konnte, dachte bei sich: Sie erinnert mich an irgend etwas, doch kann ich nicht sagen, an was … Ein langer Mensch von etwa dreißig Jahren und mit gelichtetem Haupthaar spielte an dem kleinen braunen Pianoforte dreimal hintereinander den »Hochzeitsmarsch« aus dem »Sommernachtstraum«, und als einige Damen ihn darum baten, begann er das melodiöse Stück zum viertenmal, nachdem er einer nach der anderen tief und schweigend in die Augen geblickt hatte.
{131} »Ist es erlaubt, sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen, Ingenieur?« fragte Settembrini, welcher, die Hände in den Hosentaschen, zwischen den Gästen umhergeschlendert war und nun vor Hans Castorp hintrat … Noch immer trug er seinen grauen, flausartigen Rock und die hellkarierten Beinkleider. Er lächelte bei seiner Anrede, und wieder empfand Hans Castorp etwas wie Ernüchterung beim Anblick dieses fein und spöttisch gekräuselten Mundwinkels unter der Biegung des schwarzen Schnurrbartes. Übrigens blickte er den Italiener ziemlich blöde, mit schlaffem Munde und rotgeäderten Augen an.
»Ach, Sie sind es«, sagte er. »Der Herr vom Morgenspaziergang, den wir bei dieser Bank da oben … beim Wasserlauf … Natürlich, ich habe Sie sofort wieder erkannt. Wollen Sie glauben,« fuhr er fort, obgleich er wohl einsah, daß er es nicht hätte sagen dürfen, »daß ich Sie damals im ersten Augenblick für einen Drehorgelmann gehalten habe? … Das war natürlich der reine Unsinn,« setzte er hinzu, da er sah, daß Settembrinis Blick einen kühl forschenden Ausdruck annahm, »– eine furchtbare Dummheit mit einem Wort! Es
ist
mir sogar vollständig unbegreiflich, wie in aller Welt ich …«
»Beunruhigen Sie sich nicht, es hat nichts zu sagen«, erwiderte Settembrini, nachdem er den jungen Mann noch einen Augenblick schweigend betrachtet hatte. »Und wie haben Sie also Ihren Tag verbracht, – den ersten Ihres Aufenthaltes an diesem Lustorte?«
»Ich danke sehr. Ganz vorschriftsmäßig«, antwortete Hans Castorp. »Vorwiegend auf ›horizontale Art‹, wie Sie es mit Vorliebe nennen sollen.«
Settembrini lächelte.
»Es mag sein, daß ich mich gelegentlich so ausgedrückt habe«, sagte er. »Nun, und Sie fanden sie kurzweilig, diese Lebensweise?«
»Kurzweilig und langweilig, wie Sie nun wollen«, erwiderte {132} Hans Castorp. »Das ist zuweilen schwer zu
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