Der Zauberberg
Settembrini. »Ich salutiere übrigens auch dem Mute. Was Sie sagen, läßt sich wohl hören, es dürfte schwer sein, etwas Triftiges dagegen einzuwenden. Auch habe ich wirklich schöne Fälle von Akklimatisation beobachtet. Da war im vorigen Jahre Fräulein Kneifer, Ottilie Kneifer, durchaus von Familie, die Tochter eines höheren Staatsfunktionärs. Sie war wohl anderthalb Jahre hier und hatte sich so vortrefflich eingelebt, daß sie, als ihre Gesundheit vollkommen hergestellt war – denn das kommt vor, man wird zuweilen gesund hier oben –, daß sie auch dann noch um keinen Preis fort wollte. Sie bat den Hofrat von ganzer Seele, noch bleiben zu dürfen, sie könne und möge nicht heim, hier sei sie zu Hause, hier sei sie glücklich; da aber lebhafter Zudrang herrschte und man ihr Zimmer benötigte, so war ihr Flehen umsonst, und man beharrte darauf, sie als gesund zu entlassen. Ottilie bekam hohes Fieber, sie ließ ihre Kurve tüchtig ansteigen. Allein man entlarvte sie, indem man ihr das gebräuchliche Thermometer mit einer ›Stummen Schwester‹ vertauschte, – Sie wissen noch nicht, was das ist, es ist ein Thermometer ohne Bezifferung, der Arzt kontrolliert ihn, indem er ein Maß daran legt und zeichnet die Kurve dann selbst. Ottilie, mein Herr, hatte 36,9, Ottilie war fieberfrei. Da badete sie im See, – wir schrieben Anfang Mai damals, wir hatten {135} Nachtfröste, der See war nicht geradezu eiskalt, er hatte genau genommen ein paar Grad über Null. Sie blieb eine gute Weile im Wasser, um dies oder jenes abzubekommen, – allein der Erfolg? Sie war und blieb gesund. Sie schied in Schmerz und Verzweiflung, unzugänglich den Trostworten ihrer Eltern. ›Was soll ich da unten?‹ rief sie wiederholt. ›Hier ist meine Heimat!‹ Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist … Aber mir scheint, Sie hören mich nicht, Ingenieur? Es kostet Sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten, wenn mich nicht alles täuscht. Leutnant, hier haben Sie Ihren Vetter!« wandte er sich zu Joachim, der eben herantrat. »Führen Sie ihn zu Bette! Er vereinigt Vernunft und Mut, aber heute abend ist er ein wenig hinfällig.«
»Nein, wirklich, ich habe alles verstanden!« beteuerte Hans Castorp. »Die Stumme Schwester ist also nur eine Quecksilbersäule, ganz ohne Bezifferung, – Sie sehen, ich habe es vollkommen aufgefaßt!« Aber dann fuhr er doch mit Joachim im Lift hinauf, zusammen mit mehreren anderen Patienten, – die Geselligkeit war beendet für heute, man ging auseinander und suchte Hallen und Loggien auf, zur abendlichen Liegekur. Hans Castorp ging mit auf Joachims Zimmer. Der Boden des Korridors mit dem Kokosläufer vollführte sanfte Wellenbewegungen unter seinen Füßen, aber er empfand es nicht weiter unangenehm. Er setzte sich in Joachims großen geblümten Lehnstuhl – ein solcher Stuhl stand auch in seinem eigenen Zimmer – und zündete sich eine Maria Mancini an. Sie schmeckte nach Leim, nach Kohle und manchem anderen, nur nicht, wie sie sollte; doch fuhr er trotzdem fort, sie zu rauchen, während er zusah, wie Joachim sich zur Liegekur fertig machte, seine litewkaartige Hausjoppe anlegte, darüber einen älteren Paletot zog und dann mit der Nachttischlampe und seinem russischen Übungsbuch auf den Balkon hinausging, wo er das Lämpchen einschaltete und auf dem Liegestuhl, das Thermo {136} meter im Munde, sich mit erstaunlicher Gewandtheit in zwei große Kamelhaardecken zu wickeln begann, die über den Stuhl gebreitet waren. Hans Castorp sah mit aufrichtiger Bewunderung, wie geschickt er es ausführte. Er schlug die Decken, eine nach der anderen, zuerst von links der Länge nach bis unter die Achsel über sich, hierauf von unten über die Füße und dann von rechts, so daß er endlich ein vollkommen ebenmäßiges und glattes Paket bildete, aus dem nur Kopf, Schultern und Arme hervorsahen.
»Das machst du ja ausgezeichnet«, sagte Hans Castorp.
»Es ist die Übung«, antwortete Joachim, indem er beim Sprechen das Thermometer mit den Zähnen festhielt. »Du lernst es auch. Morgen müssen wir uns unbedingt ein paar Decken für dich besorgen. Du kannst sie unten schon wieder brauchen, und hier bei uns sind sie unerläßlich, besonders da du ja keinen Pelzsack hast.«
»Ich lege mich aber bei Nacht nicht auf den Balkon«, erklärte Hans Castorp. »Das tue ich nicht, ich sage es dir gleich. Es würde mir gar zu sonderbar vorkommen. Alles hat seine Grenzen. Und irgendwie muß ich ja schließlich auch
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