Der Zauberberg
würdest du es mir weiter übelnehmen?«
»Abreisen? Was fällt dir ein!« rief Joachim. »Unsinn. Wo du gerade erst angekommen bist. Wie willst du denn urteilen nach dem ersten Tage!«
»Gott, ist noch immer der erste Tag? Mir ist ganz, als wäre ich schon lange – lange bei euch hier oben.«
»Nun fange nur nicht wieder an, über die Zeit zu spintisieren!« sagte Joachim. »Ganz konfus hast du mich heute morgen gemacht.«
»Nein, sei beruhigt, ich habe alles vergessen«, erwiderte Hans Castorp. »Den ganzen Komplex. Jetzt bin ich auch kein bißchen scharf mehr im Kopfe, das ist vorüber … Nun gibt es also Tee.«
»Ja, und dann gehen wir wieder bis zu der Bank von heute morgen.«
»In Gottes Namen. Aber hoffentlich treffen wir Settembrini nicht wieder. Ich kann mich heute an keinem gebildeten Gespräch mehr beteiligen, das sage ich dir im voraus.«
Im Speisesaal wurden alle Getränke geschenkt, die zu dieser Stunde nur irgend in Betracht kommen. Miß Robinson trank wieder ihren blutroten Hagebuttentee, während die Großnichte Yoghurt löffelte. Außerdem gab es Milch, Tee, Kaffee, Scho {128} kolade, ja sogar Fleischbrühe, und überall waren die Gäste, die seit dem üppigen Mittagsmahl zwei Stunden liegend verbracht hatten, eifrig beschäftigt, Butter auf große Schnitten Rosinenkuchen zu streichen.
Hans Castorp hatte sich Tee geben lassen und tauchte Zwieback hinein. Auch etwas Marmelade versuchte er. Den Rosinenkuchen betrachtete er genau, doch erzitterte er buchstäblich bei dem Gedanken, davon zu essen. Abermals saß er an seinem Platze im Saal mit dem einfältig bunten Gewölbe, den sieben Tischen, – zum viertenmal. Etwas später, um sieben Uhr, saß er zum fünftenmal dort, und da galt es das Abendessen. In die Zwischenzeit, welche kurz und nichtig war, fiel ein Spaziergang zu jener Bank an der Bergwand, beim Wasserrinnsal – der Weg war jetzt dicht belebt von Patienten, so daß die Vettern häufig zu grüßen hatten – und eine neuerliche Liegekur auf dem Balkon, von flüchtigen und gehaltlosen anderthalb Stunden. Hans Castorp fröstelte heftig dabei.
Zur Abendmahlzeit kleidete er sich gewissenhaft um und aß dann zwischen Miß Robinson und der Lehrerin Juliennesuppe, gebackenes und gebratenes Fleisch nebst Zubehör, zwei Stücke von einer Torte, in der alles vorkam: Makronenteig, Buttercreme, Schokolade, Fruchtmus und Marzipan, und sehr guten Käse auf Pumpernickel. Wieder ließ er sich eine Flasche Kulmbacher dazu geben. Als er jedoch sein hohes Glas zur Hälfte geleert hatte, erkannte er klar und deutlich, daß er ins Bett gehöre. In seinem Kopfe rauschte es, seine Augenlider waren wie Blei, sein Herz ging wie eine kleine Pauke, und zu seiner Qual bildete er sich ein, daß die hübsche Marusja, die, vornüber geneigt, ihr Gesicht in der Hand mit dem kleinen Rubin verbarg, über
ihn
lache, obgleich er sich so angestrengt bemüht hatte, keinerlei Veranlassung dazu zu geben. Wie aus weiter Ferne hörte er Frau Stöhr etwas erzählen oder behaupten, was ihm als so tolles Zeug erschien, daß er in verwirrte Zweifel {129} geriet, ob er noch richtig höre oder ob Frau Stöhrs Äußerungen sich vielleicht in seinem Kopfe zu Unsinn verwandelten. Sie erklärte, daß sie achtundzwanzig verschiedene Fischsaucen zu bereiten verstehe, – sie habe den Mut, dafür einzustehen, obgleich ihr eigener Mann sie gewarnt habe, davon zu sprechen. »Sprich nicht davon!« habe er gesagt. »Niemand wird es dir glauben, und wenn man es glaubt, so wird man es lächerlich finden!« Und doch wolle sie es heute einmal sagen und offen bekennen, daß es achtundzwanzig Fischsaucen seien, die sie machen könne. Das schien dem armen Hans Castorp entsetzlich; er erschrak, griff sich mit der Hand an die Stirn und vergaß vollkommen, einen Bissen Pumpernickel mit Chester, den er im Munde hatte, fertig zu kauen und hinunterzuschlucken. Noch als man von Tische aufstand, hatte er ihn im Munde.
Man ging durch die Glastür zur Linken hinaus, jene fatale, die immer zufiel und die geradewegs in die vordere Halle führte. Fast alle Gäste nahmen diesen Weg, denn es zeigte sich, daß um die Stunde nach dem Diner in der Halle und den anliegenden Salons eine Art von Geselligkeit stattfand. Die Mehrzahl der Patienten stand in kleinen Gruppen plaudernd umher. An zwei grün ausgeschlagenen Klapptischen lag man dem Spiele ob; es war Domino an dem einen, Bridge an dem anderen Tische, und hier waren es nur junge Leute, die spielten,
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