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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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massenweise Schokolade auf meinem Zimmer. Acht Bonbonnieren, fünf Tafeln Gala-Peter und vier Pfund Lindschokolade habe ich da oben, – das alles {125} haben die Damen des Sanatoriums mir während meiner Lungenentzündung zustellen lassen …«
    Irgendwoher gebot eine Baßstimme Ruhe. Herr Albin lachte kurz auf, – es war ein flatternd-abgerissenes Lachen. Dann ward es still in der Liegehalle, so still, als sei ein Traum oder Spuk zerstoben; und sonderbar klangen die gesprochenen Worte im Schweigen nach. Hans Castorp lauschte ihnen, bis sie völlig erstorben waren, und obwohl ihm unbestimmt schien, als ob Herr Albin ein Laffe sei, so konnte er sich doch nicht eines gewissen Neides auf ihn erwehren. Namentlich jenes dem Schulleben entnommene Gleichnis hatte ihm Eindruck gemacht, denn er selbst war ja in Untersekunda sitzen geblieben, und er erinnerte sich wohl des etwas schimpflichen aber humoristischen, angenehm verwahrlosten Zustandes, dessen er genossen hatte, als er im vierten Quartal das Rennen aufgegeben und »über das Ganze« hatte lachen können. Da seine Betrachtungen dumpf und verworren waren, so ist es schwer, sie zu präzisieren. Hauptsächlich schien ihm, daß die Ehre bedeutende Vorteile für sich habe, aber die Schande nicht minder, ja, daß die Vorteile der letzteren geradezu grenzenloser Art seien. Und indem er sich probeweise in Herrn Albins Zustand versetzte und sich vergegenwärtigte, wie es sein müsse, wenn man endgültig des Druckes der Ehre ledig war und auf immer die bodenlosen Vorteile der Schande genoß, erschreckte den jungen Mann ein Gefühl von wüster Süßigkeit, das sein Herz vorübergehend zu noch hastigerem Gange erregte.

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    Später verlor er das Bewußtsein. Nach seiner Taschenuhr war es halb vier, als Gespräch hinter der linken Glaswand ihn weckte: Dr. Krokowski, der um diese Zeit ohne den Hofrat die Runde machte, sprach dort russisch mit dem unmanierlichen Ehe {126} paar, erkundigte sich, wie es schien, nach dem Befinden des Gatten und ließ sich seine Fiebertabelle zeigen. Dann aber setzte er seinen Weg nicht durch die Balkonlogen fort, sondern umging Hans Castorps Abteil, indem er sich auf den Korridor zurückbegab und durch die Zimmertür bei Joachim eintrat. Daß man solchergestalt einen Bogen um ihn beschrieb und ihn links liegen ließ, empfand Hans Castorp denn doch als etwas verletzend, obgleich ihn nach einem Zusammensein unter vier Augen mit Dr. Krokowski ja durchaus nicht verlangte. Freilich, er war eben gesund und zählte nicht mit, – denn bei Denen hier oben, dachte er, lagen die Dinge so, daß derjenige nicht in Betracht kam und nicht gefragt wurde, der die Ehre hatte, gesund zu sein, und das ärgerte den jungen Castorp.
    Nachdem Dr. Krokowski sich bei Joachim zwei oder drei Minuten verweilt hatte, ging er den Balkon entlang weiter, und Hans Castorp hörte den Vetter sagen, daß man nun aufstehen und sich zur Vespermahlzeit bereit machen könne. »Schön«, sagte er und stand auf. Aber es schwindelte ihn sehr vom langen Liegen, und der unerquickliche Halbschlaf hatte ihm das Gesicht aufs neue peinlich erhitzt, während er übrigens zum Frösteln neigte, – vielleicht hatte er sich nicht warm genug zugedeckt.
    Er wusch sich Augen und Hände, ordnete sein Haar und seine Kleider und traf mit Joachim auf dem Korridor zusammen.
    »Hast du diesen Herrn Albin gehört?« fragte er, als sie die Treppen hinunter gingen …
    »Natürlich«, sagte Joachim. »Der Mensch müßte diszipliniert werden. Stört da die ganze Mittagsruhe mit seinem Geschwätz und regt die Damen so auf, daß er sie um Wochen zurückbringt. Eine grobe Insubordination. Aber wer will denn den Denunzianten machen. Und außerdem sind solche Reden ja den meisten als Unterhaltung willkommen.«
    {127} »Hältst du es für möglich,« fragte Hans Castorp, »daß er Ernst macht mit seiner ›glatten Sache‹, wie er sich ausdrückt, und sich einen Fremdkörper appliziert?«
    »Ach, doch,« antwortete Joachim, »ganz unmöglich ist es nicht. Dergleichen kommt vor hier oben. Zwei Monate bevor ich kam hat sich ein Student, der schon lange hier war, nach einer Generaluntersuchung im Walde drüben aufgehängt. Es war in meinen ersten Tagen noch viel die Rede davon.«
    Hans Castorp gähnte erregt.
    »Ja, gut fühle ich mich nicht bei euch,« erklärte er, »das kann ich nicht sagen. Ich halte es für möglich, daß ich nicht bleiben kann, du, daß ich abreisen muß, –

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