Der Zauberberg
sich, mit der Schulter Settembrini vom Fleck zu drängen, welcher dastand und lächelte, – fein, trocken und spöttisch, unter dem vollen, schwarzen Schnurrbart, dort, wo er sich in schöner Rundung aufwärts bog, und dieses Lächeln eben war es, was Hans Castorp als Beeinträchtigung empfand. »Sie stören!« hörte er sich deutlich sagen. »Fort mit Ihnen! Sie sind nur ein Drehorgelmann, und Sie stören hier!« Allein Settembrini ließ sich nicht von der Stelle drängen, und Hans Castorp stand noch, um nachzudenken, was hier zu tun sei, als ihm ganz unverhofft die ausgezeichnete Einsicht zuteil wurde, was eigentlich die Zeit sei: nämlich nichts anderes, als einfach eine Stumme Schwester, eine Quecksilbersäule ganz ohne Bezifferung, für diejenigen, welche mogeln wollten, – worüber er mit dem bestimmten Vorhaben erwachte, seinem Vetter Joachim morgen von diesem Funde Mitteilung zu machen.
Unter solchen Abenteuern und Entdeckungen verging die Nacht, und auch Hermine Kleefeld sowie Herr Albin und Hauptmann Miklosich, welch letzterer Frau Stöhr in seinem Rachen davontrug und von Staatsanwalt Paravant mit einem Speere durchbohrt wurde, spielten ihre verworrene Rolle dabei. Einen Traum aber träumte Hans Castorp sogar zweimal in dieser Nacht und zwar beide Male genau in derselben Form, – das letztemal gegen Morgen. Er saß im Saal mit den sieben Tischen, als unter dem größten Geschmetter die Glastür ins Schloß fiel und Madame Chauchat hereinkam, im weißen Sweater, die eine Hand in der Tasche, die andere am Hinter {142} kopf. Statt aber zum Guten Russentisch zu gehen, bewegte die unerzogene Frau sich ohne Laut auf Hans Castorp zu und reichte ihm schweigend die Hand zum Kusse, – aber nicht den Handrücken reichte sie ihm, sondern das Innere, und Hans Castorp küßte sie in die Hand, in ihre unveredelte, ein wenig breite und kurzfingerige Hand mit der aufgerauhten Haut zu Seiten der Nägel. Da durchdrang ihn wieder von Kopf bis zu Fuß jenes Gefühl von wüster Süßigkeit, das in ihm aufgestiegen war, als er zur Probe sich des Druckes der Ehre ledig gefühlt und die bodenlosen Vorteile der Schande genossen hatte, – dies empfand er nun wieder in seinem Traum, nur ungeheuer viel stärker.
{143} Viertes Kapitel
Notwendiger Einkauf
»Ist jetzt euer Sommer zu Ende?« fragte Hans Castorp am dritten Tage ironisch seinen Vetter …
Es war ein schrecklicher Wettersturz.
Der zweite Tag, den der Hospitant vollständig hier oben verlebt hatte, war prächtig-sommerlich gewesen. Tiefblau leuchtete der Himmel über den lanzenartigen Wipfeltrieben der Fichten, während die Ortschaft im Talgrunde grell in der Hitze schimmerte und das Geläut der Kühe, die umherwandelnd das kurze, erwärmte Mattengras der Lehnen rupften, heiter-beschaulich die Lüfte erfüllte. Die Damen waren schon zum ersten Frühstück in zarten Waschblusen erschienen, einige sogar mit durchbrochenen Ärmeln, was nicht alle gleich gut gekleidet hatte, – Frau Stöhr zum Beispiel kleidete es entschieden schlecht, ihre Arme waren zu schwammig, Duftigkeit der Kleidung eignete sich nun einmal nicht für sie. Auch die Herrenwelt des Sanatoriums hatte der schönen Witterung auf verschiedene Weise in ihrem Äußeren Rechnung getragen. Lüsterjacken und leinene Anzüge waren aufgetaucht, und Joachim Ziemßen hatte elfenbeinfarbene Flanellhosen zu seinem blauen Rock getragen, eine Zusammenstellung, die seiner Erscheinung ein vollständig militärisches Gepräge verlieh. Was Settembrini betraf, so hatte er zwar wiederholt das Vorhaben geäußert, den Anzug zu wechseln. »Teufel!« hatte er gesagt, als er nach dem Lunch mit den Vettern in den Ort hinunterpromenierte, »wie die Sonne brennt! Ich sehe, ich werde mich leichter kleiden müssen.« Aber trotzdem es gewählt ausgedrückt war, hatte er nach wie vor seinen langen Flaus mit den großen Aufschlägen und seine gewürfelten Beinkleider anbehalten, – wahrscheinlich war das alles, was er an Garderobe besaß.
{144} Am dritten Tage jedoch war es genau, als ob die Natur zu Falle gebracht und jede Ordnung auf den Kopf gestellt würde; Hans Castorp traute seinen Augen nicht. Es war nach der Hauptmahlzeit, und man befand sich seit zwanzig Minuten in der Liegekur, als die Sonne sich eilig verbarg, häßlich torfbraunes Gewölk über die südöstlichen Kämme heraufzog und ein Wind von fremder Luftbeschaffenheit, kalt und das Gebein erschreckend, als käme er aus unbekannten, eisigen Gegenden,
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