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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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plötzlich durch das Tal fegte, die Temperatur umstürzte und ein ganz neues Regiment eröffnete.
    »Schnee«, sagte Joachims Stimme hinter der Glaswand.
    »Was meinst du mit ›Schnee‹?« fragte Hans Castorp darauf. »Du willst doch nicht sagen, daß es jetzt schneien wird?«
    »Sicher«, antwortete Joachim. »Den Wind, den kennen wir. Wenn der kommt, dann gibt es Schlittenbahn.«
    »Unsinn!« sagte Hans Castorp. »Wenn mir recht ist, so schreiben wir Anfang August.«
    Aber Joachim hatte wahr gesprochen, eingeweiht, wie er war in die Verhältnisse. Denn binnen wenigen Augenblicken setzte unter wiederholten Gewitterschlägen ein gewaltiges Schneetreiben ein, – ein Gestöber, so dicht, daß alles in weißen Dampf gehüllt erschien und man von Ortschaft und Tal fast nichts mehr erblickte.
    Es schneite den ganzen Nachmittag fort. Die Zentralheizung ward angezündet, und während Joachim seinen Pelzsack in Benutzung nahm und sich im Kurdienste nicht stören ließ, flüchtete sich Hans Castorp in das Innere seines Zimmers, rückte einen Stuhl an die erwärmten Röhren und blickte von dort unter häufigem Kopfschütteln in das Unwesen hinaus. Am nächsten Morgen schneite es nicht mehr; aber obgleich das Außenthermometer einige Wärmegrade zeigte, war der Schnee doch fußhoch liegen geblieben, so daß eine vollkommene Winterlandschaft sich vor Hans Castorps verwunderten Blicken {145} ausbreitete. Man hatte die Heizung wieder ausgehen lassen. Die Zimmertemperatur betrug sechs Grad über Null.
    »Ist jetzt euer Sommer zu Ende?« fragte Hans Castorp seinen Vetter mit bitterer Ironie …
    »Das kann man nicht sagen«, erwiderte Joachim sachlich. »Will’s Gott, so wird es noch schöne Sommertage geben. Selbst im September ist das noch sehr wohl möglich. Aber die Sache ist die, daß die Jahreszeiten hier nicht so sehr voneinander verschieden sind, weißt du, sie vermischen sich sozusagen und halten sich nicht an den Kalender. Im Winter ist oft die Sonne so stark, daß man schwitzt und den Rock auszieht beim Spazierengehen, und im Sommer, nun, das siehst du ja schon, wie es im Sommer hier manchmal ist. Und dann der Schnee – er bringt alles durcheinander. Es schneit im Januar, aber im Mai nicht viel weniger, und im August schneit es auch, wie du bemerkst. Im ganzen kann man sagen, daß kein Monat vergeht, ohne daß es schneit, das ist ein Satz, an dem man festhalten kann. Kurz, es gibt Wintertage und Sommertage und Frühlings- und Herbsttage, aber so richtige Jahreszeiten, die gibt es eigentlich nicht bei uns hier oben.«
    »Das ist ja eine schöne Konfusion«, sagte Hans Castorp. Er ging in Überschuhen und Winterpaletot mit seinem Vetter in den Ort hinab, um sich Decken für die Liegekur zu besorgen, denn es war klar, daß er bei dieser Witterung mit seinem Plaid nicht auskommen werde. Vorübergehend erwog er sogar, ob er nicht zum Kauf eines Pelzsackes schreiten solle, nahm dann aber Abstand davon, ja, schreckte gewissermaßen vor dem Gedanken zurück.
    »Nein, nein,« sagte er, »bleiben wir bei den Decken! Ich werde unten schon wieder Verwendung für sie haben, und Decken hat man ja überall, es ist weiter nichts so Besonderes oder Aufregendes dabei. Aber so ein Pelzsack ist etwas gar zu Spezielles, – versteh’ mich recht, wenn ich mir einen Pelzsack {146} anschaffe, käme ich mir selber vor, als ob ich mich hier häuslich niederlassen wollte und schon gewissermaßen zu euch gehörte … Kurz, ich will nichts weiter sagen, als daß es ja absolut nicht lohnen würde, für die paar Wochen eigens einen Pelzsack zu kaufen.«
    Joachim stimmte dem zu, und so erstanden sie denn in einem hübschen, reichhaltigen Geschäft des Englischen Viertels zwei solche Kamelhaardecken, wie Joachim sie hatte, ein besonders langes und breites, angenehm weiches Fabrikat in Naturfarbe, und gaben Order, daß sie sofort ins Sanatorium gesandt werden sollten, ins Internationale Sanatorium »Berghof«, Zimmertür 34. Gleich heute nachmittag wollte Hans Castorp sie zum erstenmal in Gebrauch nehmen.
    Natürlich war es um die Zeit nach dem zweiten Frühstück, denn sonst bot die Tagesordnung keine Gelegenheit, in den Ort hinunterzugehen. Es regnete jetzt, und der Schnee auf den Straßen hatte sich in spritzenden Eisbrei verwandelt. Auf dem Heimwege holten sie Settembrini ein, welcher unter einem Regenschirm, wenn auch barhäuptig, ebenfalls dem Sanatorium zustrebte. Der Italiener sah gelb aus und befand sich ersichtlich in elegischer

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