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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Furcht an den Tag legte und, sobald die jungen Leute Miene machten, weiterzugehen, sich mit hastigen Worten und Blicken, auch einem verzweifelten Lächeln an sie klammerte, so daß sie aus Erbarmen noch bei ihr stehen blieben. Sie sprach des langen und breiten von ihrem Papa, welcher Jurist, und ihrem Cousin, der Arzt sei, – offenbar um sich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen und ihre Herkunft aus gebildeter Gesellschaftsschicht zu bekunden. Was ihren Pflegling dort hinter der Tür betraf, so war er der Sohn eines Koburger Puppenfabrikanten, Rotbein mit Namen, und neuerdings habe es sich bei dem jungen Fritz auf den Darm geworfen. Das sei hart für alle Beteiligten, wie die Herren sich wohl vorstellen könnten; namentlich wenn man nun einmal aus akademischem Hause stamme und die Feinfühligkeit der höheren Klassen besitze, so sei es hart. Und nicht den Rücken dürfe man kehren … Neulich, was glaubten die Herren, komme sie von einem kurzen Ausgange zurück, nichts als ein wenig Zahnpulver habe sie sich besorgt, und finde den Kranken in seinem Bette sitzend, vor sich ein Glas dickes, dunkles Bier, eine Salamiwurst, ein derbes Stück Schwarzbrot und eine Gurke! All diese heimischen Leckerbissen hätten die Seinen ihm zugesandt zu seiner Kräftigung. Aber am nächsten Tage sei er natürlich mehr tot als lebendig gewesen. Er selbst beschleunige sein Ende. Aber das werde die Erlösung ja nur für ihn bedeuten, nicht auch für sie – Schwester Berta sei übrigens ihr Name, in Wirklichkeit Alfreda Schildknecht –, denn
sie
komme dann eben zu einem anderen Kranken, in mehr oder weniger vorgeschrittenem Stadium, hier oder in einem anderen Sanatorium, das sei die Perspektive, die sich ihr eröffne, und eine andere eröffne sich eben nicht.
    Ja, sagte Hans Castorp, ihr Beruf sei gewiß schwer, aber doch auch befriedigend, sollte er denken.
    {166} Gewiß, antwortete sie, befriedigend sei er, – befriedigend, aber sehr schwer.
    Nun, alles Gute für Herrn Rotbein. Und die Vettern wollten gehen.
    Aber da klammerte sie sich an sie mit Worten und Blicken, und so jammervoll war es zu sehen, wie sie sich anstrengte, die jungen Leute ein wenig länger zu fesseln, daß es grausam gewesen wäre, ihr nicht noch eine Frist zu gewähren.
    »Er schläft!« sagte sie. »Er braucht mich nicht. Da bin ich für einige kurze Minuten auf den Gang hinausgetreten …« Und sie begann über Hofrat Behrens zu klagen und den Ton, in dem er mit ihr verkehre und der allzu zwanglos sei, um ihrer Herkunft zu entsprechen. Bei weitem gab sie Herrn Dr. Krokowski den Vorzug, – ihn nannte sie seelenvoll. Dann kam sie wieder auf ihren Papa und ihren Cousin. Ihr Hirn gab nichts weiter her. Vergebens rang sie danach, die Vettern noch ein wenig zu fesseln, indem sie plötzlich mit einem Anlauf die Stimme erhob und beinahe zu schreien begann, wenn sie gehen wollten, – sie entschlüpften ihr endlich und gingen. Aber die Schwester sah ihnen noch eine Weile mit vorgebeugtem Oberkörper und saugenden Blicken nach, als wollte sie sie mit den Augen zu sich zurückziehen. Dann entrang sich ein Seufzer ihrer Brust, und sie kehrte zu ihrem Pflegling ins Zimmer zurück.
    Sonst wurde Hans Castorp in diesen Tagen nur noch mit der schwarzbleichen Dame bekannt, jener Mexikanerin, die er im Garten gesehen hatte und die »Tous les deux« genannt wurde. Es geschah wirklich, daß auch er aus ihrem Munde die trübselige Formel hörte, die ihr zum Spitznamen geworden war; aber da er sich vorbereitet hatte, so bewahrte er gute Haltung dabei und konnte nachher zufrieden mit sich sein. Die Vettern trafen sie vor dem Hauptportal, als sie nach dem ersten Frühstück den vorgeschriebenen Morgenspaziergang antraten. In ein schwarzes Kaschmirtuch gehüllt, mit krummen Knien und {167} langen, ruhelos wandernden Tritten erging sie sich dort, und gegen den schwarzen Schleier, der um ihr silbern durchzogenes Haar geschlungen und unter dem Kinn zusammengebunden war, schimmerte mattweiß ihr alterndes Gesicht mit dem großen, verhärmten Munde. Joachim, ohne Hut wie gewöhnlich, begrüßte sie durch Verneigung, und sie dankte langsam, während beim Schauen die Querfalten in ihrer engen Stirn sich vertieften. Sie blieb stehen, da sie ein neues Gesicht bemerkte, und erwartete, leise mit dem Kopfe nickend, die Annäherung der jungen Leute; denn offenbar hielt sie es für notwendig zu hören, ob der Fremde von ihrem Schicksal wisse, und seine Äußerung darüber entgegenzunehmen.

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