Der Zauberberg
Joachim stellte seinen Vetter vor. Sie reichte dem Gast aus der Mantille heraus die Hand, eine magere, gelbliche, hoch geäderte, mit Ringen geschmückte Hand, und fuhr fort, ihn nickend anzublicken. Dann kam es:
»Tous les dé, monsieur«, sagte sie. »Tous les dé vous savez …«
»Je le sais, madame«, antwortete Hans Castorp gedämpft. »Et je le regrette beaucoup.«
Die schlaffen Hautsäcke unter ihren jettschwarzen Augen waren so groß und schwer, wie er es noch bei keinem Menschen gesehen. Ein leiser, welker Duft ging von ihr aus. Es war ihm sanft und ernst um das Herz.
»Merci«, sagte sie mit einer rasselnden Aussprache, die sonderbar zu der Gebrochenheit ihres Wesens stimmte, und der eine Winkel ihres großen Mundes hing tragisch tief hinab. Dann zog sie die Hand unter die Mantille zurück, neigte den Kopf und machte sich wieder ans Wandern. Hans Castorp aber sagte im Weitergehen:
»Du siehst, es hat mir nichts gemacht, ich bin ganz gut mit ihr fertig geworden. Ich werde überhaupt mit solchen Leuten ganz gut fertig, glaube ich, ich verstehe mich von Natur auf den Umgang mit ihnen, – meinst du nicht auch? Ich glaube sogar, {168} ich komme mit traurigen Menschen im ganzen besser aus, als mit lustigen, weiß Gott, woran es liegt, vielleicht daran, daß ich doch Waise bin und meine Eltern so früh verloren habe, aber wenn die Leute ernst und traurig sind und der Tod im Spiele ist, das bedrückt mich eigentlich nicht und macht mich nicht verlegen, sondern ich fühle mich dabei in meinem Element und jedenfalls besser, als wenn es so forsch zugeht, das liegt mir weniger. Neulich dachte ich: Es ist doch eine Albernheit von den hiesigen Damen, sich dermaßen vor dem Tode zu graulen und allem, was damit zusammenhängt, daß man sie ängstlich davor bewahren muß und das Viatikum bringt, wenn sie gerade essen. Nein, pfui, das ist läppisch. Siehst du nicht ganz gern einen Sarg? Ich sehe ganz gern mal einen. Ich finde, ein Sarg ist ein geradezu schönes Möbel, schon wenn er leer ist, aber wenn jemand darin liegt, dann ist es direkt feierlich in meinen Augen. Begräbnisse haben so etwas Erbauliches, – ich habe schon manchmal gedacht, man sollte, statt in die Kirche, zu einem Begräbnis gehen, wenn man sich ein bißchen erbauen will. Die Leute haben gutes schwarzes Zeug an und nehmen die Hüte ab und sehen auf den Sarg und halten sich ernst und andächtig, und niemand darf faule Witze machen, wie sonst im Leben. Das habe ich sehr gern, wenn sie endlich mal ein bißchen andächtig sind. Manchmal habe ich mich schon gefragt, ob ich nicht Pastor hätte werden sollen, – in gewisser Weise hätte das, glaube ich, nicht schlecht für mich gepaßt … Hoffentlich habe ich keinen Fehler im Französischen gemacht bei dem, was ich sagte?«
»Nein«, sagte Joachim. »›Je le regrette beaucoup‹ war ja soweit ganz richtig.«
Politisch verdächtig!
Regelmäßige Abwandlungen des Normaltages fanden sich ein: zuerst ein Sonntag – und zwar ein Sonntag mit Kurmusik auf {169} der Terrasse, wie er vierzehntägig erschien, eine Markierung der Doppelwoche also, in deren zweite Hälfte Hans Castorp von außen eingetreten war. An einem Dienstag war er gekommen, und so war es der fünfte Tag, ein Tag von Frühlingscharakter nach jenem abenteuerlichen Wettersturz und Rückfall in den Winter, – zart und frisch, mit reinlichen Wolken am hellblauen Himmel und mäßigem Sonnenschein über Hängen und Tal, die wieder ein ordnungsgemäßes Sommergrün angenommen hatten, da der Neuschnee denn doch zu raschem Versickern verurteilt gewesen war.
Es war deutlich, daß jedermann sich befliß, den Sonntag zu ehren und auszuzeichnen; Verwaltung und Gäste unterstützten einander in diesem Bestreben. Gleich zum Morgentee gab es Streußelkuchen, an jedem Platz stand ein Gläschen mit ein paar Blumen, wilden Gebirgsnelken und sogar Alpenrosen, welche die Herren sich in das Knopfloch des Aufschlages steckten (Staatsanwalt Paravant aus Dortmund hatte sogar einen schwarzen Schwalbenschwanz mit punktierter Weste angelegt), die Damentoiletten trugen das Gepräge festlicher Duftigkeit – Frau Chauchat erschien zum Frühstück in einer fließenden Spitzenmatinee mit offenen Ärmeln, worin sie, während die Glastür ins Schloß schmetterte, erst einmal Front machte und sich dem Saal gleichsam anmutig präsentierte, bevor sie sich schleichenden Schrittes zu ihrem Tisch begab, und die sie so ausgezeichnet kleidete, daß Hans Castorps
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