Der Zauberberg
einzuleben, und brauchst keine Unternehmungen.«
Hans Castorp stimmte dem bei. Er hatte eine Zigarette im Munde und die Hände in den Hosentaschen. So sah er zu, wie die kleine, muntere, alte russische Dame mit ihrer mageren Großnichte und zwei anderen Damen in einem Wagen Platz nahm; es waren Marusja und Madame Chauchat. Diese hatte einen dünnen Staubmantel, mit einem Gurt im Rücken, angelegt, war jedoch ohne Hut. Sie setzte sich neben die Alte in den Fond des Wagens, während die jungen Mädchen die Rückplätze einnahmen. Alle vier waren lustig und regten unauf {177} hörlich die Münder in ihrer weichen, gleichsam knochenlosen Sprache. Sie sprachen und lachten über die Wagendecke, in die sie sich unter Schwierigkeiten teilten, über das russische Konfekt, das die Großtante als Mundvorrat in einem mit Watte und Papierspitzen gepolsterten Holzkistchen mitführte und schon jetzt präsentierte … Hans Castorp unterschied mit Anteil Frau Chauchats verschleierte Stimme. Wie immer, wenn ihm die nachlässige Frau vor Augen kam, bekräftigte sich ihm aufs neue jene Ähnlichkeit, nach der er eine Weile gesucht hatte und die ihm im Traume aufgegangen war … Marusjas Lachen aber, der Anblick ihrer runden, braunen Augen, die kindlich über das Tüchlein hinwegblickten, womit sie den Mund bedeckte, und ihrer hohen Brust, die innerlich gar nicht wenig krank sein sollte, erinnerte ihn an etwas Anderes, Erschütterndes, was er neulich gesehen hatte, und so blickte er vorsichtig und ohne den Kopf zu bewegen zur Seite auf Joachim. Nein, gottlob, so fleckig im Gesicht sah Joachim nicht aus wie damals, und auch seine Lippen waren jetzt nicht so kläglich verzerrt. Aber er sah Marusja an – und zwar in einer Haltung, mit einem Augenausdruck, die unmöglich militärisch genannt werden konnten, vielmehr so trüb und selbstvergessen erschienen, daß man sie als ausgemacht zivilistisch ansprechen mußte. Dann raffte er sich übrigens zusammen und blickte rasch nach Hans Castorp, so daß dieser eben noch Zeit hatte, seine Augen von ihm fortzutun und sie irgendwohin in die Lüfte zu senden. Er fühlte sein Herz klopfen dabei, – unmotiviert und auf eigene Hand, wie es das hier nun einmal tat.
Der Rest des Sonntags bot nichts Außerordentliches, abgesehen vielleicht von den Mahlzeiten, die, da sie reicher als gewöhnlich nicht wohl gestaltet werden konnten, wenigstens eine erhöhte Feinheit der Gerichte aufwiesen. (Zum Mittagessen gab es ein Chaud-froid von Hühnern, mit Krebsen und halbierten Kirschen verziert; zum Gefrorenen Patisserie in {178} Körbchen, die aus gesponnenem Zucker geflochten waren, und dann auch noch frische Ananas.) Abends, nachdem er sein Bier getrunken, fühlte Hans Castorp sich noch erschöpfter, frostiger und schwerer von Gliedern, als die Tage vorher, sagte seinem Vetter schon gegen neun Uhr gute Nacht, zog eilig das Federbett bis über das Kinn und schlief ein wie erschlagen.
Allein schon der folgende Tag, der erste Montag also, den der Hospitant hier oben verlebte, brachte eine weitere regelmäßig wiederkehrende Abwandlung des Tageslaufes: nämlich einen jener Vorträge, die Dr. Krokowski vierzehntägig im Speisesaal vor dem gesamten volljährigen, der deutschen Sprache kundigen und nicht moribunden Publikum des »Berghofes« hielt. Es handelte sich, wie Hans Castorp von seinem Vetter hörte, um eine Reihe zusammenhängender Kollegien, einen populär-wissenschaftlichen Kursus unter dem Generaltitel »Die Liebe als krankheitbildende Macht«. Die belehrende Unterhaltung fand nach dem zweiten Frühstück statt, und es war, wie wiederum Joachim sagte, nicht zulässig, wurde zum mindesten höchst ungern gesehen, daß man sich davon ausschlösse, – weshalb es denn auch als erstaunliche Frechheit galt, daß Settembrini, obgleich des Deutschen mächtiger als irgend jemand, die Vorträge nicht nur niemals besuchte, sondern sich auch in den abschätzigsten Äußerungen darüber erging. Was Hans Castorp betraf, so war er vor allem aus Höflichkeit, dann aber auch aus unverhohlener Neugier sofort entschlossen, sich einzufinden. Vorher jedoch tat er etwas ganz Verkehrtes und Fehlerhaftes: er ließ sich einfallen, auf eigene Hand einen ausgedehnten Spaziergang zu machen, was ihm über alles Vermuten schlecht bekam.
»Jetzt paß auf!« waren seine ersten Worte, als Joachim morgens in sein Zimmer trat. »Ich sehe, daß es mit mir nicht so weitergeht. Ich habe die horizontale Lebensweise nun satt, – das
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