Der Zauberberg
Kopfe wackelte, wie der alte Hans Lorenz Castorp es dereinst getan hatte. Er selbst fand sich durch die Erscheinung an seinen verstorbenen Großvater herzlich erinnert, und ohne sie als widerwärtig zu empfinden, gefiel er sich darin, die ehrwürdige Kinnstütze nachzuahmen, womit der Alte dem Kopfzittern zu steuern gesucht und die dem Knaben einst so zugesagt hatte.
Er stieg noch höher, in Serpentinen. Kuhglockengeläut zog ihn an, und er fand auch die Herde; sie graste in der Nähe einer Blockhütte, deren Dach mit Steinen beschwert war. Zwei bärtige Männer kamen ihm entgegen, mit Äxten auf den Schultern, und trennten sich, als sie nahe herangekommen. »Nun, so leb wohl und hab Dank!« sagte der eine zum andern mit tiefer, gaumiger Stimme, legte seine Axt auf die andere Schulter und begann ohne Weg und mit knackenden Tritten zwischen den Fichten zu Tal zu schreiten. Es hatte so sonderbar in der Einsamkeit geklungen, dieses »Leb wohl und hab Dank« und träumerisch Hans Castorps vom Steigen und Singen benommenen Sinn berührt. Er sprach es leise nach, indem er sich bemühte, die gutturale und feierlich-unbeholfene Mundart des Gebirglers nachzuahmen, und stieg noch ein Stück über die Almhütte hinaus, da es ihm darum zu tun war, die Baumgrenze zu er {182} reichen; doch ließ er nach einem Blick auf die Uhr von diesem Vorhaben ab.
Er folgte linkshin, in der Richtung gegen den Ort, einem Pfade, der eben lief und dann abwärts führte. Hochstämmiger Nadelwald nahm ihn auf, und indem er ihn durchwanderte, begann er sogar wieder ein wenig zu singen, wenn auch mit Vorsicht und obgleich seine Knie beim Abstiege noch befremdlicher zitterten als vorher. Aber aus dem Gehölz hervortretend, stand er überrascht vor einer prächtigen Szenerie, die sich ihm öffnete, einer intim geschlossenen Landschaft von friedlich-großartiger Bildmäßigkeit.
In flachem, steinigem Bett kam ein Bergwasser die rechtsseitige Höhe herab, ergoß sich schäumend über terrassenförmig gelagerte Blöcke und floß dann ruhiger gegen das Tal hin weiter, von einem Stege mit schlicht gezimmertem Geländer malerisch überbrückt. Der Grund war blau von den Glockenblüten einer staudenartigen Pflanze, die überall wucherte. Ernste Fichten, riesig und ebenmäßig von Wuchs, standen einzeln und in Gruppen auf dem Boden der Schlucht sowie die Höhen hinan, und eine davon, zur Seite des Wildbaches schräg im Gehänge wurzelnd, ragte schief und bizarr in das Bild hinein. Rauschende Abgeschiedenheit waltete über dem schönen, einsamen Ort. Jenseits des Baches bemerkte Hans Castorp eine Ruhebank.
Er überschritt den Steg und setzte sich, um sich vom Anblick des Wassersturzes, des treibenden Schaums unterhalten zu lassen, dem idyllisch gesprächigen, einförmigen und doch innerlich abwechslungsvollen Geräusche zu lauschen; denn rauschendes Wasser liebte Hans Castorp ebensosehr wie Musik, ja vielleicht noch mehr. Aber kaum hatte er sichs bequem gemacht, als ein Nasenbluten ihn so plötzlich befiel, daß er seinen Anzug nicht ganz vor Verunreinigung schützen konnte. Die Blutung war heftig, hartnäckig und machte ihm wohl eine {183} halbe Stunde lang zu schaffen, indem sie ihn zwang, beständig zwischen Bach und Bank hin und her zu laufen, sein Schnupftuch zu spülen, Wasser aufzuschnauben und sich wieder flach auf den Brettersitz hinzustrecken, das feuchte Tuch auf der Nase. So blieb er liegen als endlich das Blut versiegte – lag still, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, mit hochgezogenen Knien, die Augen geschlossen, die Ohren erfüllt vom Rauschen, nicht unwohl, eher besänftigt vom reichlichen Aderlaß und in einem Zustande sonderbar herabgesetzter Lebenstätigkeit; denn wenn er ausgeatmet hatte, fühlte er lange kein Bedürfnis, neue Luft einzuholen, sondern ließ mit stillgestelltem Leibe ruhig sein Herz eine Reihe von Schlägen tun, bis er spät und träge wieder einen oberflächlichen Atemzug aufnahm.
Da fand er sich auf einmal in jene frühe Lebenslage versetzt, die das Urbild eines nach neuesten Eindrücken gemodelten Traumes war, den er vor einigen Nächten geträumt … Aber so stark, so restlos, so bis zur Aufhebung des Raumes und der Zeit war er ins Dort und Damals entrückt, daß man hätte sagen können, ein lebloser Körper liege hier oben beim Gießbache auf der Bank, während der eigentliche Hans Castorp weit fort in früherer Zeit und Umgebung stünde, und zwar in einer bei aller Einfachheit gewagten und
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