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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Nachbarin, die Lehrerin aus Königsberg, sich ganz begeistert darüber zeigte – und sogar das barbarische Ehepaar vom Schlechten Russentisch hatte dem Gottestag Rechnung getragen, indem nämlich der männliche Teil seine Lederjoppe mit einer Art von kurzem Gehrock und die Filzstiefel mit Lederschuhwerk vertauscht hatte,
sie
freilich auch heute ihre unsaubere Federboa, darunter aber eine grünseidene Bluse mit Halskrause trug … Hans Castorp runzelte die Brauen, als er der beiden {170} ansichtig wurde, und verfärbte sich, wozu er hier auffallend neigte.
    Gleich nach dem zweiten Frühstück begann die Kurmusik auf der Terrasse; allerlei Blech- und Holzbläser fanden sich dort ein und spielten abwechselnd flott und getragen, fast bis zum Mittagessen. Während des Konzertes war die Liegekur nicht streng obligatorisch. Zwar genossen einige den Ohrenschmaus auf ihren Balkons, und auch in der Gartenhalle waren drei oder vier Stühle besetzt; aber die Mehrzahl der Gäste saß an den kleinen, weißen Tischen auf der gedeckten Plattform, während leichte Lebewelt, der es zu ehrbar scheinen mochte, auf Stühlen zu sitzen, die steinernen Stufen besetzt hielt, die in den Garten hinunterführten, und dort viel Frohsinn entfaltete: jugendliche Kranke beiderlei Geschlechts, von denen Hans Castorp die meisten schon dem Namen nach oder von Ansehen kannte. Hermine Kleefeld gehörte dazu, sowie Herr Albin, der eine große geblümte Schachtel mit Schokolade herumgehen und alle daraus essen ließ, während er selbst nicht aß, sondern mit väterlicher Miene Zigaretten mit goldenem Mundstück rauchte; ferner der wulstlippige Jüngling vom »Verein Halbe Lunge«, Fräulein Levi, dünn und elfenbeinfarben, wie sie war, ein aschblonder junger Mann, der auf den Namen Rasmussen hörte und seine Hände nach Art von Flossen aus schlaffen Gelenken in Brusthöhe hängen ließ, Frau Salomon aus Amsterdam, eine rot gekleidete Frau von reicher Körperlichkeit, die sich ebenfalls der Jugend beigesellt hatte und in deren bräunlichen Nakken jener lange Mensch mit gelichtetem Haar, der aus dem »Sommernachtstraum« spielen konnte und nun, mit den Armen seine spitzen Knie umschlingend, hinter ihr saß, unablässig seine trüben Blicke gerichtet hielt; ein rothaariges Fräulein aus Griechenland, ein anderes unbekannter Herkunft mit dem Gesicht eines Tapirs, der gefräßige Junge mit den dicken Brillengläsern, ein weiterer fünfzehn- oder sechzehnjähriger {171} Junge, der ein Monokel eingeklemmt hatte und beim Hüsteln den lang gewachsenen, salzlöffelähnlichen Nagel seines kleinen Fingers zum Munde führte, ein kapitaler Esel offenbar – und noch andere mehr.
    Dieser Junge mit dem Fingernagel, erzählte Joachim leise, sei nur ganz wenig leidend gewesen, als er gekommen sei, – ohne Temperatur, und nur der Vorsicht halber sei er von seinem Vater, einem Arzt, heraufgeschickt worden und habe nach des Hofrats Urteile etwa drei Monate bleiben sollen. Jetzt, nach drei Monaten, habe er 37,8 bis 38 und sei recht krank. Aber er lebe ja auch so unvernünftig, daß er Maulschellen verdiene.
    Die Vettern hatten ein Tischchen für sich, etwas abseits von den übrigen, denn Hans Castorp rauchte zu seinem schwarzen Bier, das er vom Frühstück mit herausgenommen hatte, und von Zeit zu Zeit schmeckte ihm seine Zigarre ein wenig. Benommen vom Biere und von der Musik, die wie immer bewirkte, daß sein Mund sich öffnete und sein Kopf sich auf die Seite legte, betrachtete er mit geröteten Augen das sorglose Badeleben ringsumher, wobei das Bewußtsein ihn durchaus nicht störte, sondern im Gegenteil dem Ganzen eine erhöhte Merkwürdigkeit, einen gewissen geistigen Reiz verlieh, daß alle diese Leute in ihrem Inneren von einem schwer aufzuhaltenden Zerfall ergriffen waren und daß die meisten von ihnen in leichtem Fieber standen … Man trank perlende Kunstlimonade an den Tischchen, und auf der Freitreppe wurde photographiert. Andere tauschten dort Briefmarken, und das rothaarige Fräulein aus Griechenland zeichnete Herrn Rasmussen auf einem Block, wollte ihm dann aber das Bild nicht zeigen, sondern wandte sich, mit breiten, weit auseinander stehenden Zähnen lachend, hin und her, so daß er es lange nicht vermochte, ihr den Block zu entreißen. Hermine Kleefeld saß mit nur halb geöffneten Augen auf ihrer Stufe und schlug mit einer zusammengerollten Zeitung den Takt zur Musik, während sie sich von Herrn Albin {172} ein Sträußchen Wiesenblumen an ihrer

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