Der Zauberberg
Laut und öffentlich habe er damals das Wort gesprochen, daß alle Menschen dereinst jene drei Tage von Paris neben die sechs Tage der Weltschöpfung stellen würden. Hier konnte Hans {239} Castorp nicht umhin, mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und sich bis in den Grund seiner Seele zu wundern. Daß man drei Sommertage des Jahres 1830, an welchen die Pariser sich eine neue Verfassung gegeben, neben die sechs stellen solle, in denen Gott der Herr die Feste von den Wassern geschieden und die ewigen Himmelslichter sowie Blumen, Bäume, Vögel, Fische und alles Leben geschaffen hatte, schien ihm stark, und noch nachher, allein mit seinem Vetter Joachim, ausdrücklich und gesprächsweise, fand er es überaus stark, ja geradezu anstößig.
Aber er war guten Willens, sich beeinflussen zu lassen, im Sinne des Wortes, daß es angenehm sei, Versuche anzustellen, und so legte er dem Proteste, den seine Pietät und sein Geschmack gegen die Settembrinische Anordnung der Dinge erhoben, Zügel an, in der Erwägung, daß, was ihm lästerlich vorkam, Kühnheit genannt werden könne und, was ihn abgeschmackt anmutete, Hochherzigkeit und edelmütiger Überschwang wenigstens dort und damals gewesen sein mochte: so zum Beispiel, wenn Großvater Settembrini die Barrikaden den »Volksthron« genannt und erklärt hatte, es gelte, »die Pike des Bürgers am Altar der Menschheit zu weihen«.
Hans Castorp wußte, warum er Herrn Settembrini zuhörte, nicht ausdrücklich, aber er wußte es. Etwas wie Pflichtgefühl war dabei, außer jener Ferien-Verantwortungslosigkeit des Reisenden und Hospitanten, der sich gegen keinen Eindruck verhärtet und die Dinge an sich herankommen läßt, in dem Bewußtsein, daß er morgen oder übermorgen wieder die Flügel lüften und in die gewohnte Ordnung zurückkehren wird: – etwas wie eine Gewissensvorschrift also, und zwar, um genau zu sein, die Vorschrift und Mahnung eines irgendwie schlechten Gewissens, bestimmte ihn, dem Italiener zuzuhören, ein Bein über das andere geschlagen und an seiner Maria Mancini ziehend, oder wenn sie zu dritt vom Englischen Viertel gegen den Berghof emporstiegen.
{240} Nach Settembrinis Anordnung und Darstellung lagen zwei Prinzipien im Kampf um die Welt: die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen, das Prinzip des Beharrens und dasjenige der gärenden Bewegung, des Fortschritts. Man konnte das eine das asiatische Prinzip, das andere aber das europäische nennen, denn Europa war das Land der Rebellion, der Kritik und der umgestaltenden Tätigkeit, während der östliche Erdteil die Unbeweglichkeit, die untätige Ruhe verkörperte. Gar kein Zweifel, welcher der beiden Mächte endlich der Sieg zufallen würde, – es war die der Aufklärung, der vernunftgemäßen Vervollkommnung. Denn immer neue Völker raffte die Menschlichkeit auf ihrem glänzenden Wege mit fort, immer mehr Erde eroberte sie in Europa selbst und begann, nach Asien vorzudringen. Doch fehlte noch viel an ihrem vollen Siege, und noch große und edelmütige Anstrengungen waren von den Wohlgesinnten, von denen, welche das Licht erhalten hatten, zu machen, bis nur erst der Tag kam, wo auch in den Ländern unseres Erdteils, die in Wahrheit weder ein achtzehntes Jahrhundert noch ein 1789 erlebt hatten, die Monarchien und Religionen zusammenstürzen würden. Aber dieser Tag werde kommen, sagte Settembrini und lächelte fein unter seinem Schnurrbart, – er werde, wenn nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlersschwingen kommen und anbrechen als die Morgenröte der allgemeinen Völkerverbrüderung im Zeichen der Vernunft, der Wissenschaft und des Rechtes; die heilige Allianz der bürgerlichen Demokratie werde er bringen, das leuchtende Gegenstück zu jener dreimal infamen Allianz der Fürsten und Kabinette, deren persönlicher Todfeind Großvater Giuseppe gewesen, – mit einem Worte die Weltrepublik. Zu diesem Endziele aber war vor allem erforderlich, das asiatische, das knechtische Prinzip der Beharrung im Mittelpunkte und Lebensnerv seines Widerstandes zu treffen, nämlich in Wien. Österreich gelte es aufs Haupt zu schlagen und zu zerstören, einmal um {241} Rache zu nehmen für Vergangenes und dann, um die Herrschaft des Rechtes und Glückes auf Erden in die Wege zu leiten.
Diese letzte Wendung und Schlußfolgerung von Settembrinis wohllautenden Ergießungen interessierte Hans Castorp nun gar nicht mehr, sie mißfiel ihm, ja berührte ihn peinlich wie eine
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