Der Zauberberg
gewesen, die Sonne war schon hinab, der annähernd volle Mond im Osten über den buschigen Ufern schon aufgegangen. Da hatte zehn Minuten lang, während Hans Castorp sich über die stillen Wasser dahinruderte, eine verwirrende und träumerische Konstellation geherrscht. Im Westen war heller Tag gewesen, ein glasig nüchternes, entschiedenes Tageslicht; aber wandte er den Kopf, so hatte er in eine ebenso ausgemachte, höchst zauberhafte, von feuchten Nebeln durchsponnene Mondnacht geblickt. Das sonderbare Verhältnis hatte wohl eine knappe Viertelstunde bestanden, bevor es sich zugunsten der Nacht und des Mondes ausgeglichen, und mit heiterem Staunen waren Hans Castorps geblen {237} dete und vexierte Augen von einer Beleuchtung und Landschaft zur anderen, vom Tage in die Nacht und aus der Nacht wieder in den Tag gegangen. Daran also mußte er denken.
Ein großer Rechtsgelehrter, dachte er ferner, konnte Advokat Settembrini bei seiner Lebensführung und seinem ausgedehnten Betreiben nicht gut geworden sein. Aber der allgemeine Grundsatz des Rechtes hatte ihn, wie der Enkel glaubhaft machte, von Kindesbeinen bis an sein Lebensende beseelt, und Hans Castorp, obgleich zur Zeit nicht eben scharf im Kopfe und von einer sechsgängigen Berghof-Mahlzeit organisch stark in Anspruch genommen, bemühte sich, zu verstehen, wie Settembrini es meinte, wenn er diesen Grundsatz »die Quelle der Freiheit und des Fortschritts« nannte. Unter dem letzteren hatte Hans Castorp bisher so etwas verstanden, wie die Entwicklung des Hebezeug-Wesens im neunzehnten Jahrhundert; und er fand denn auch, daß Herr Settembrini solche Dinge nicht niedrig einschätzte, was offenbar auch sein Großvater nicht getan. Der Italiener erzeigte dem Vaterlande seiner beiden Zuhörer hohe Ehre in Hinsicht darauf, daß dort das Schießpulver erfunden worden sei, welches den Harnisch des Feudalismus zum Gerümpel gemacht habe, sowie die Druckerpresse: denn diese habe die demokratische Verbreitung der Ideen – das heiße: die Verbreitung der demokratischen Ideen ermöglicht. Er lobte also Deutschland in diesem Betracht und, soweit die Vergangenheit in Frage kam, wenn er auch seinem eigenen Lande billig die Palme glaubte reichen zu sollen, da es, während die anderen Völker noch in Aberglauben und Knechtschaft dämmerten, als erstes die Fahne der Aufklärung, Bildung und Freiheit entrollt habe. Wenn er aber der Technik und dem Verkehr, Hans Castorps persönlichem Arbeitsgebiet, viel Reverenz erwies, wie er es schon bei seiner ersten Begegnung mit den Vettern bei der Bank am Abhange getan, so schien es doch nicht um dieser Mächte selbst willen zu geschehen, sondern in {238} Anbetracht ihrer Bedeutung für die moralische Vervollkommnung der Menschen, – denn eine solche Bedeutung erklärte er freudig ihnen beizumessen. Indem die Technik, sagte er, mehr und mehr die Natur sich unterwerfe, durch die Verbindungen, welche sie schaffe, den Ausbau der Straßennetze und Telegraphen, die klimatischen Unterschiede besiege, erweise sie sich als das verlässigste Mittel, die Völker einander nahe zu bringen, ihre gegenseitige Bekanntschaft zu fördern, menschlichen Ausgleich zwischen ihnen anzubahnen, ihre Vorurteile zu zerstören und endlich ihre allgemeine Vereinigung herbeizuführen. Das Menschengeschlecht komme aus Dunkel, Furcht und Haß, jedoch auf glänzendem Wege bewege es sich vorwärts und aufwärts einem Endzustande der Sympathie, der inneren Helligkeit, der Güte und des Glückes entgegen, und auf diesem Wege sei die Technik das förderlichste Vehikel, sagte er. Aber indem er so sprach, faßte er in
einer
Auslassung des Atems Kategorien zusammen, die Hans Castorp bisher nur weit voneinander getrennt zu denken gewohnt gewesen war. »Technik und Sittlichkeit!« sagte er. Und dann sprach er wahrhaftig vom Heilande des Christentums, der das Prinzip der Gleichheit und der Vereinigung zuerst offenbart, worauf die Druckerpresse die Verbreitung dieses Prinzipes mächtig gefördert und endlich die große französische Staatsumwälzung es zum Gesetz erhoben habe. Das mutete den jungen Hans Castorp, wenn auch aus unbestimmten Gründen, so doch in der Tat auf das allerbestimmteste konfus an, obwohl Herr Settembrini es in so klare und pralle Worte faßte. Einmal, erzählte dieser, einmal in seinem Leben, und zwar zu Beginn seines besten Mannesalters, habe sein Großvater sich recht von Herzen glücklich gefühlt, und das sei zur Zeit der Pariser Juli-Revolution gewesen.
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