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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Laufenden über die letzten Neuigkeiten, obgleich er sich doch gegen das Gemeinschaftsleben Derer hier oben so kritisch-spöttisch verhielt. Er wußte alles. Er kannte die Namen und ungefähr auch die Lebensumstände Neuangekommener; er berichtete, daß gestern bei dem und dem oder der und der eine Rippenresektion vorgenommen worden und hatte es aus bester Quelle, daß vom Herbst an Kranke über 38,5 Grad nicht mehr aufgenommen werden würden. In der letzten Nacht hatte sich, seiner Erzählung nach, das Hündchen der Madame Capatsoulias aus Mytilene auf den Knopf des elektrischen Lichtsignals auf dem Nachttisch seiner Herrin gesetzt, woraus viel Rennerei und Tumult entstanden war, besonders, da man Madame Capatsoulias nicht allein, sondern in Gesellschaft des Assessors Düstmund aus Friedrichshagen gefunden habe. Selbst Dr. Blumenkohl mußte lächeln über diese Geschichte, die hübsche Marusja wollte in ihrem Orangentüchlein fast ersticken, und Frau Stöhr schrie gellend, indem sie die linke Brust mit beiden Händen preßte.
    Aber mit den Vettern sprach Lodovico Settembrini auch von sich selbst und seiner Herkunft, sei es auf den Spaziergängen, gelegentlich der Abendgeselligkeit oder nach beendetem Mittagstisch, wenn die große Mehrzahl der Patienten den Saal schon verlassen hatte und die drei Herren noch eine Weile an ihrem Tafelende sitzenblieben, während die Saaltöchter abräumten und Hans Castorp seine Maria Mancini rauchte, deren Würze er in der dritten Woche wieder ein wenig zu schmecken begann. Aufmerksam prüfend, befremdet, aber willig sich beeinflussen zu lassen, hörte er den Erzählungen des Italieners zu, die ihm eine sonderbare, durchaus neuartige Welt eröffneten.
    {233} Settembrini sprach von seinem Großvater, der zu Mailand Advokat, hauptsächlich aber ein großer Patriot gewesen und etwas wie einen politischen Agitator, Redner und Zeitschriften-Mitarbeiter vorgestellt hatte, – auch er ein Oppositionsmann, gleich dem Enkel, doch hatte er das Ding in größerem, kühnerem Stile betrieben. Denn während Lodovico, wie er selber mit Bitterkeit bemerkte, sich darauf angewiesen fand, das Leben und Treiben im Internationalen Sanatorium Berghof zu hecheln, höhnische Kritik daran zu üben und im Namen einer schönen und tatfrohen Menschlichkeit Verwahrung dagegen einzulegen, hatte jener den Regierungen zu schaffen gemacht, gegen Österreich und die Heilige Allianz konspiriert, die damals sein zerstückeltes Vaterland im Banne dumpfer Knechtschaft gehalten hatten, und war eifriges Mitglied gewisser, über Italien verbreiteter geheimer Gesellschaften gewesen, – ein Carbonaro, wie Settembrini mit plötzlich gesenkter Stimme erklärte, als sei es auch jetzt noch gefährlich, davon zu sprechen. Kurz, dieser Giuseppe Settembrini stellte sich, nach den Erzählungen des Enkels, den beiden Zuhörern als eine dunkle, leidenschaftliche und wühlerische Existenz, als ein Rädelsführer und Verschwörer dar, und bei aller Achtung, deren sie sich höflicherweise befleißigten, gelang es ihnen nicht ganz, einen Ausdruck mißtrauischer Abneigung, ja des Widerwillens aus ihren Zügen zu verbannen. Freilich lagen die Dinge besonders: was sie hörten, war lange her, fast hundert Jahre, es war Geschichte, und aus der Geschichte, namentlich der alten, war ihnen das Wesen, von dem sie hier vernahmen, die Erscheinung verzweifelten Freiheitsmutes und unbeugsamen Tyrannenhasses theoretisch vertraut, obwohl sie nie gedacht hatten, so menschlich unmittelbar mit ihm in Berührung zu kommen. Auch hatte sich mit dem Aufrührer- und Konspirantentum dieses Großvaters, wie sie hörten, eine große Liebe zu seinem Vaterlande verbunden, das er einig und frei wissen wollte, – ja, {234} sein umstürzlerisches Betreiben war Frucht und Ausfluß dieser achtbaren Verbundenheit gewesen, und wie sonderbar die Mischung von Aufrührerei und Patriotismus die Vettern, einen wie den andern, auch anmutete – denn sie waren gewohnt, vaterländische Gesinnung mit einem erhaltenden Ordnungssinn gleichzusetzen –, so mußten sie bei sich selber doch zugeben, daß, wie dort und damals alles sich verhalten hatte, Rebellion mit Bürgertugend und loyale Gesetztheit mit träger Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wesen mochte gleichbedeutend gewesen sein.
    Aber nicht nur ein italienischer Patriot war Großvater Settembrini gewesen, sondern Mitbürger und Mitstreiter aller nach Freiheit dürstenden Völker. Denn nach dem Scheitern eines

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