Der Zauberberg
gewissen Hand- und Staatsstreichversuches, den man in Turin unternommen, und an dem er mit Wort und Tat beteiligt gewesen, nur mit genauer Not den Häschern des Fürsten Metternich entkommen, hatte er die Zeit seiner Verbannung dazu benutzt, in Spanien für die Konstitution und in Griechenland für die Unabhängigkeit des hellenischen Volkes zu kämpfen und zu bluten. Hier war Settembrinis Vater zur Welt gekommen, – weshalb er denn wohl auch ein so großer Humanist und Liebhaber des klassischen Altertums geworden war, – geboren übrigens von einer Mutter deutschen Blutes, denn Giuseppe hatte das Mädchen in der Schweiz geheiratet und bei seinen weiteren Abenteuern mit sich geführt. Später, nach zehnjähriger Landflüchtigkeit, hatte er in die Heimat zurückkehren können und zu Mailand als Advokat gewirkt, keineswegs aber darauf verzichtet, die Nation durch das gesprochene und geschriebene Wort, in Vers und Prosa zur Freiheit und zur Herstellung der einheitlichen Republik aufzurufen, staatsumwälzende Programme mit leidenschaftlich diktatorischem Schwung zu entwerfen und klaren Stiles die Vereinigung der befreiten Völker zur Errichtung des allgemei {235} nen Glückes zu verkünden. Eine Einzelheit, deren Settembrini, der Enkel, erwähnte, machte besonderen Eindruck auf den jungen Hans Castorp: daß nämlich Großvater Giuseppe sich zeit seines Lebens ausschließlich in schwarzer Trauerkleidung unter seinen Mitbürgern gezeigt habe, denn er sei ein Leidtragender, habe er gesagt, um Italien, sein Vaterland, das in Elend und Knechtschaft dahinschmachte. Bei dieser Nachricht mußte Hans Castorp, wie er es übrigens schon vorher ein paarmal vergleichend getan hatte, an seinen eigenen Großvater denken, der ebenfalls, solange der Enkel ihn kannte, sich allezeit schwarz getragen hatte, aber in gründlich anderem Sinne, als dieser Großvater hier: an die altmodische Tracht dachte er, mit der Hans Lorenz Castorps eigentliches, einer vergangenen Zeit angehöriges Wesen sich behelfsweise und unter Andeutung seiner Unzugehörigkeit der Gegenwart angepaßt hatte, bis es im Tode zu seiner wahren und angemessenen Gestalt (mit der Tellerkrause) feierlich eingegangen war. Zwei auffallend verschiedenartige Großväter waren das wahrhaftig gewesen! Hans Castorp dachte darüber nach, indes seine Augen sich festsahen und er vorsichtig den Kopf schüttelte, so, daß es ebensogut als ein Zeichen der Bewunderung für Giuseppe Settembrini, wie auch als Befremdung und Verneinung gedeutet werden konnte. Auch hütete er sich redlich, das Fremdartige zu verurteilen, sondern hielt sich an, es bei Vergleich und Feststellung bewenden zu lassen. Er sah den schmalen Kopf des alten Hans Lorenz im Saale sich sinnend über das schwachgoldene Rund der Taufschale, des stehend-wandernden Erbstückes neigen, – gerundeten Mundes, denn seine Lippen bildeten die Vorsilbe »Ur«, diesen dumpfen und frommen Laut, der an Orte erinnerte, an denen man in eine ehrerbietig vorwärts wiegende Gangart verfiel. Und er sah Giuseppe Settembrini, die Trikolore im Arm, mit geschwungenem Säbel und den schwarzen Blick gelobend gen Himmel gewandt, einer Schar von Freiheits {236} kämpfern voran gegen die Phalanx des Despotismus stürmen. Beides hatte wohl seine Schönheit und Ehre, dachte er, um Billigkeit desto mehr bemüht, als er sich persönlich oder halb persönlich ein wenig Partei fühlte. Denn Großvater Settembrini hatte ja um politische Rechte gestritten, seinem eigenen Großvater aber oder doch dessen Vorvätern hatten ursprünglich alle Rechte gehört, und die Krapüle hatte sie ihnen im Laufe von vier Jahrhunderten mit Gewalt und Redensarten entrissen … Da waren sie nun beide immer in Schwarz gegangen, der Großvater im Norden und der im Süden, und beide zu dem Zweck, einen strengen Abstand zwischen sich und die schlechte Gegenwart zu legen. Aber der eine hatte es aus Frömmigkeit getan, der Vergangenheit und dem Tode zu Ehren, denen sein Wesen angehörte; der andere dagegen aus Rebellion und zu Ehren eines frömmigkeitsfeindlichen Fortschritts. Ja, das waren zwei Welten oder Himmelsgegenden, dachte Hans Castorp, und wie er gleichsam zwischen ihnen stand, während Herr Settembrini erzählte, und prüfend bald in die eine, bald in die andere blickte, so, meinte er, habe er es schon einmal erfahren. Er erinnerte sich einer einsamen Kahnfahrt im Abendzwielicht auf einem holsteinischen See, im Spätsommer, vor einigen Jahren. Um sieben Uhr war es
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