Der Zauberspiegel
Rauschen, Ächzen, Kreischen und Knacken. Keine kleinen Trippelschritte im Unterholz, kein Hecheln und Grunzen, das klang, als stürzten sich jeden Moment sämtliche Bewohner des Waldes auf sie.
Juliane entspannte sich. Im Grunde gefiel es ihr hier sehr gut. Alles wirkte friedlich, goldene Sonnenkringel tanzten auf dem Waldboden, Wassertropfen glitzerten auf den Farnen und der Geruch nach Harz und etwas Süß-Herbem stieg ihr in die Nase. Dann waren da noch diese Stimmen im Hintergrund, die sangen …
Juliane riss die Augen auf. Stimmen? Menschen! Hatte sie den Waldrand erreicht? Neugierig geworden sprang sie auf und folgte dem Gesang. Mit jedem Schritt erhöhte sich die Aufregung. In ihrem Übereifer stolperte sie über eine Wurzel, ein weiteres Mal überschätzte sie ihre Geschwindigkeit. Sie konnte dem Baum nicht rechtzeitig ausweichen und prallte mit der Schulter gegen den Stamm. Schmerzerfüllt stöhnte sie auf, dennoch rannte sie weiter , so schnell sie konnte.
Vor ihr lichtete sich der Wald und Juliane ließ die Bäume hinter sich. Der Gesang, der ihr den Weg aus dem Wald gewiesen hatte, stammte von einem Mann und zwei Frauen, die auf einem altertümlichen Ochsenkarren saßen.
Juliane überlegte, ob sie die drei auf sich aufmerksam machen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie wusste noch nicht, wo sie war und wie sie auf die Leute wirken würde. Besser, sie erkundete erst das unbekannte Terrain.
Vor ihr erstreckte sich eine blühende Landschaft. Sattgrüne Wiesen wechselten sich mit goldgelben Getreidefeldern ab. Sie konnte kleine Wälder erkennen, die winzige Dörfer umschlossen. Nirgendwo gab es Anzeichen für asphaltierte Straßen, Strommasten oder Autos. Nichts, das auf Zivilisation hindeutete, zumindest keine, die ihr vertraut war.
In einer Richtung entdeckte sie eine gewaltige Burg, die wie ein grauer Fels in den Himmel ragte. Sie musterte die Türme, die Wehrmauer und kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, was dort vor sich ging. Schwarze Punkte wanderten auf der Burgwehr hin und her. Ritter? Irgendetwas am Anblick der Festung jagte ihr Angst ein. Sie fröstelte. Kälte kroch durch ihren Körper, dehnte sich aus bis in ihre Zehenspitzen.
Wie versteinert harrte sie aus. Ihr Herz verkrampfte, Trauer drohte sie zu überwältigen. Nur mühsam riss sie sich von der Burg los, und augenblicklich wichen Kälte und Trauer. Überrascht und gleichermaßen erschrocken keuchte sie auf.
»Was ist los mit mir?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre telepathischen Fähigkeiten schienen stärker zu werden. Niemals zuvor hatte sie Gefühle aus so großer Entfernung wahrnehmen können. Sie schien in einer Welt gelandet, mittelalterlich und magisch, ein Ort, wie ihn Juliane nur aus Fantasygeschichten kannte.
Langsam ergriff sie Panik. Natürlich, sie hatte sich auf dieses Abenteuer eingelassen, um zu helfen. Aber wo zur Hölle war sie gelandet? Burgen? Ritter? Hatte sie einen Zeitsprung gemacht?
Sie neigte den Kopf und erst jetzt bemerkte sie das Gebirge zu ihrer Rechten. Zerklüftete Felsen schimmerten in sanftem Blau, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Die schneebedeckten Gipfel glitzerten in der Vormittagssonne und auf den Hängen leuchteten grüne Bäume wie Hoffnungstupfer. Unwillkürlich glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Der Hunger war vergessen. Die vielen Farben wirkten tröstlich und sie entschied, sich in diese Richtung zu wenden. Vielleicht … Nein, verbesserte sie sich. Nicht vielleicht. Dort gab es jemanden, der auf sie wartete …
Juliane wanderte querfeldein. Die Vorstellung, den Trampelpfad zu benutzen, gefiel ihr nicht. Dort konnte sie anderen Menschen begegnen und vielleicht erwiesen sich diese als feindselig. Besser, sie fand erst heraus, ob die Einwohner dieser Gegend freundlich waren und wo sie überhaupt gelandet war.
Gegen Mittag erreichte sie einen Bauernhof. Das Wohnhaus mutete winzig an, doch es schien aus gutem, solidem Holz errichtet. Auch die Scheune und der Stall schienen mit Sorgfalt und Präzision erbaut. In einem Gatter tummelten sich etliche Gänse und Hühner und aus dem Stall drang das Grunzen einiger Schweine. Hinter dem Haus entdeckte sie einen Brunnen, daneben einen Hackstock mit einer hineingerammten Axt. Blut und Federn klebten an dem Metall und eine dunkle Pfütze hatte sich auf der Oberseite des Klotzes gebildet. Sie schluckte einen Anflug von Übelkeit hinunter. Sie hatte kein Problem damit, Fleisch zu essen. Doch vor Augen geführt zu
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