Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
Vom Netzwerk:
saß diagonal auf der Wange, der Mund war ein Strich. Wie der Alptraum eines Kubisten.
    »Ich krieg’s einfach nicht hin!« Lucys eingefallene blaue Augen glänzten feucht. Eine Träne lief über ihre runzlige Wange. Sie hatte Zeichenkohle an den Fingern, und als siedie Träne abwischte, blieb ein schwärzlicher Fleck zurück. »Können Sie mir nicht helfen? Ich … ich finde mich einfach nicht wieder! Früher ist mir das gelungen, aber jetzt klappt es nicht mehr.«
    Das fand ich so traurig, dass ich einen Kloß im Hals bekam. »Das kriegen wir schon hin!«, sagte ich aufmunternd. Ich nahm den Block herunter und schlug ein leeres Blatt auf. Das Vorbild-Porträt stellte ich beiseite, damit sich Lucy nicht so unter Druck setzte. Dann nahm ich einfach ihre Hand.
    Die Berührung war wie ein schwacher elektrischer Schlag. Ich fuhr zusammen, und Lucy schnappte nach Luft, ihre Finger zuckten. Ich sagte mit belegter Stimme: »Wir … wir malen zusammen, einverstanden?«
    »Einverstanden.« Es klang wie aus weiter Ferne. Vielleicht lag das aber auch daran, dass mir schwummerig war. Lucy beziehungsweise ich drückte die Kohle auf das Blatt und malte einen ersten zögerlichen Bogen für Wange und Kinn – dann dachte ich: Nicht hinschauen. Lass es einfach kommen.
    Ich schloss die Augen.
    Der wohlbekannte Zauber setzte ein. Es ging wie von selbst, mein Bewusstsein erweiterte sich …
    Unzusammenhängende Bilder und Empfindungen blitzten auf: Ein heißer Sommertag. Der Bürgersteig ist in der grellen Sonne fast weiß, sodass einem die Augen wehtun. Der schrille Pfiff einer Lokomotive. Staubkörnchen in den Augen. Ein wehendes weißes Kleid. Eine Flut von üppigem schwarzen Haar. Meine Umgebung verblasste und verflüchtigte sich: die Stimme des Kunstlehrers, die Unterhaltung der anderen Bewohner. Ich bekam undeutlich mit, dass Lucy die Kohle immer geschickter handhabte – gar nicht mehr wieeine unbeholfene alte Frau , sondern flink und sicher, als hätten wir beide uns auf eine Insel der Ruhe mitten im Sturm zurückgezogen. Die einzigen Geräusche, die ich wahrnahm, waren das Schaben der Kohle auf dem Papier und mein eigener gleichmäßiger Herzschlag.
    Irgendwann – ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, ich wollte nur nicht, dass es aufhörte – hielt Lucy inne, und ich hörte sie sagen: »Meine Güte!«
    Ich machte die Augen auf.
    + + +
    Von Whistler gibt es ein Ölgemälde mit dem Titel Symphonie in Weiß Nr. 1, Mädchen in Weiß. Das Mädchen mit den rötlichen Haaren ist hochgewachsen und steht in königlicher Haltung da. Es trägt ein bodenlanges weißes Kleid mit Kragen und Manschetten aus Spitze und steht auf einem Bärenfell, aber der Bär sieht freundlich aus wie ein Teddybär. Die Darstellung hat etwas leicht Unwirkliches, wie ein Traumbild.
    Lucy sah zwar nicht genauso aus wie Whistlers weißes Mädchen, aber doch ziemlich ähnlich. Das junge Mädchen auf Lucys Bild hatte das Haar zu einem altmodischen Knoten aufgesteckt, wodurch sein anmutiger Schwanenhals zur Geltung kam. Sein Kleid hatte einen viereckigen Ausschnitt und weite, hauchdünne Ärmel. Es lag an der Taille eng an und ging in einen fließenden Rock über, der bis auf die Spitzen der schwarzen Schuhe fiel. Das Mädchen wandte sich halb vom Betrachter ab und blickte ihn über die linke Schulter an. Auf seiner rechten Schulter lag ein Sonnenschirm. ImHintergrund sah man Gleise und einen Bahnsteig. Eine unförmige Lokomotive fuhr soeben ein. Auf der Lokomotive stand: RIO GRANDE. Das junge Mädchen war unverkennbar Lucy. Es hatte ihre Augen.
    »Donner Wetter!«
    Auf einmal stand der Lehrer hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich auch Peggy und die Ärztin. Ich merkte, dass ich immer noch Lucys Hand festhielt, und ließ sie sofort los. »Ich … äh … ich hab ihr bloß ein bisschen geholfen.«
    »Das kann man wohl sagen«, meinte Peggy.
    Lucy hatte nur Augen für die Zeichnung. Ihr liefen die Tränen über die Wangen, aber gleichzeitig strahlte sie über das ganze Gesicht. »Da bin ich ja endlich!«

XI
    Mrs Krauss war stinksauer. Sie kniff die Lippen so fest zusammen, dass sie ganz weiß wurden. »Mr Cage! Sie hatten Anweisung, nur das zu tun, wozu Peggy Sie auffordert und wozu ich meine Zustimmung erteilt habe.«
    Neben mir saß die Ärztin. Jetzt mischte sie sich ein. »Ich weiß gar nicht, worüber Sie sich so aufregen, Mrs Krauss. Sie beklagen sich doch immer, dass Sie hier zu wenig Hilfe haben. Ich habe mich mit dem

Weitere Kostenlose Bücher