Der Zeichner der Finsternis
scheint so grell, dass alles ganz hell und verblichen aussieht. Inzwischen sind die Gefangenen schon ein paar Wochen hier, aber die Leute sind immer noch neugierig. Papa hat mir verboten herzukommen. Er sagt, diese Männer sind unsere Feinde und wir hätten Besseres zu tun, als sie anzugaffen. Dabei verbringt Papa doch selbst ganz viel Zeit mit ihnen. Beim Abendessen hat er uns erzählt, dass ihn Mr Eisenmann bis auf Weiteres von der Arbeit in der Keramikwerkstatt freigestellt hat. Papas Arbeit besteht jetzt darin, die Gefangenen zu zeichnen. Mr Eisenmann sagt nämlich, bei uns würde Geschichte geschrieben. Und er will, dass Papa alles festhält – auch Mr Eisenmann selbst natürlich, weil er die Geschichte unserer Stadt lenkt.
Marta steht auf der anderen Straßenseite, nah beim Tor. Sie macht wieder mal den Gefangenen schöne Augen, und die Männer erwidern das gern. Sie hat ein paar Freundinnen dabei, alle tragen sie hübschere Kleider als sonst. Marta fällt natürlich auf, mit ihrer Zigeunerschönheit, der braunen Haut und dem roten Haarband. Papa würde ihr am liebsten auch verbieten herzukommen, aber sie steht jeden Tag hier, wenn die Gefangenen von der Feldarbeit zurückkehren. Mama und Marta haben sich gestritten und mit den Händen gefuchtelt, weil Mama und Papa finden, dass sich ein anständiges Mädchen nicht so aufführt. Aber Marta erwiderte händefuchtelnd, dass es keine anderen Männer in der Stadt gibt, weil die von hier entweder im Krieg, zu jung oder zu alt sind. Außerdem stehen alle ihre Freundinnen auch am Straßenrand. Was ist denn schon dabei?
Ich weiß, was dabei ist. Dass die Mädchen den Wölfen schöne Augen machen! Wenn Papa das wüsste, würde er Marta verhauen und ihr nicht mehr erlauben, im großen Haus zu arbeiten, weil die Wölfe dort auch rumschleichen. Miss Catherine hätte gern ein neues Haus, aber Mr Eisenmann sagt, das alte Haus ist gut genug, man muss es nur herrichten. Das übernehmen die Wölfe. Mr Eisenmann und Miss Catherine haben sich schon in aller Öffentlichkeit deswegen gestritten, weil Miss Catherine stur und eigensinnig ist. Meint Mama jedenfalls. Unsereiner soll so tun, als ob wir das Gezänk nicht mitkriegen, aber wir sind ja nicht blöd und blind. Die Reichen sind nicht wie unsereiner, sagt Papa immer.
Man hört es brummen. Da kommen auch schon die Lastwagen und wirbeln rote Staubwolken auf. Die Gefangenenhocken auf den offenen Ladeflächen. Die Aufseher sitzen dazwischen und halten ihre Gewehre im Arm wie Babys. Sie lachen und scherzen mit den Gefangenen. Es sind sieben Laster. Auf jedem fährt nur ein Aufseher mit, was ich nicht viel finde. Vorn am Steuer sitzen auch Gefangene, aber keine Aufseher. Ich denke: Die Männer hinten brauchen nur den Aufseher runterzuschubsen oder umzubringen, dann können sie fliehen. Aber das würden die Gefangenen nie tun. Sie bekommen Unterkunft, Verpflegung und sogar Lohn. Papa sagt, sie haben es gut und wissen das auch.
Vor dem Fabriktor kommen die Lastwagen quietschend zum Stehen. Ich schmecke Staub im Mund und spucke aus. Meine Spucke ist ganz rot und meine Augen brennen. Pavel reibt sich mit den Fäusten die Augen. Seine Tränen malen schmutzige Schlieren auf sein Gesicht, aber er stößt mich in die Rippen und meint: »So böse sehen sie gar nicht aus. Ich hab gehört, die meisten sind Wolfshaken. Aber jetzt zappeln die Wölfe selber am Haken, stimmt’s?«
Tatsächlich – die Männer haben gelbe Augen, und wenn sie lächeln, fletschen sie die Zähne wie Wölfe.
Marta und ihre Freundinnen winken den Gefangenen zu und strecken ihnen eingewickelte Süßigkeiten hin. Manche der Männer greifen von den Lastwagen herunter nach den Päckchen, und mir fällt ein, was ich in einem von den Büchern gelesen habe, die Mama aus Polen mitgebracht hat. Ein Buch über Ritter war das. Darin stand, dass früher eine Dame einem Ritter manchmal ihren Handschuh oder ein Taschentuch überreicht hat, und das hieß dann, dass er ihr gehört. Marta macht es genauso, und mir ist nicht wohl dabei, denn da ist auch der goldene Gefangene, der aus demZwillinge-Sternbild, Mr Eisenmanns rechte Hand. Er hat von Marta ein Päckchen entgegengenommen und etwas zu ihr gesagt, ganz langsam und deutlich, damit sie ihn versteht. Die beiden lächeln sich an, blicken sich tief in die Augen und ich denke: Sieht sie denn nicht, dass er ein …?
Ein Schrei ertönt, ein spitzer Schrei, als ob ein Nagel die Luft durchbohrt, und eine Frau ruft: »Fritz … Fritz
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