Der Zeichner der Finsternis
… Fritz Huber!«
Alle Gefangenen drehen sich um. Dann springt einer aus dem zweiten Wagen über die Seitenwand der Ladefläche und rennt auf die Menge zu. Die Leute schreien und Marta sieht verdutzt aus, weil sie erst nicht begreift, was los ist. Ich werde herumgeschubst, als sich die Menge teilt wie das Rote Meer. Die Aufseher auf den Lastwagen schauen sich nach allen Seiten um. Dann ertönt aus der Menge ein Ruf, die Aufseher springen herunter und verfolgen den Gefangenen. Sie halten ihre Gewehre senkrecht, damit sie nicht aus Versehen jemanden erschießen: »STEHEN BLEIBEN!«
Die Frau schreit wieder: »FRITZ!« Sie drängt sich an mir vorbei. Es ist Mrs Grunewald aus unserer Schule. Dann fällt sie dem Gefangenen um den Hals, die beiden umarmen sich und weinen und Mrs Grunewald schluchzt immer wieder: »Wir dachten, du bist tot, wir dachten, du bist tot …« Die Leute drum herum staunen, und die Aufseher rufen: »Zurück, alle zurück! Huber, lass die Frau los und komm sofort her, sonst müssen wir dich erschießen, Fritz!«
Da drängelt sich ein anderer Gefangener durch, der ohne Akzent, mit den schönen Zähnen und den gelben Augen – den schräg stehenden Wolfsaugen. Es ist Martas Zwilling, und er ruft in fehlerfreiem Englisch: »Lasst ihn doch, beruhigteuch, er tut ja nichts.« Er geht zu Huber, der an Mrs Grunewalds Brust weint, legt ihm den Arm um die Schulter und redet auf ihn ein.
Mrs Grunewald hat rote Flecken im Gesicht und auf ihren Wangen sind weiße Streifen, wo die Tränen den Staub abgewaschen haben. Sie sagt: »Das ist mein Vetter Fritz. Wir dachten, er ist tot. Aber er ist gar nicht tot, denn hier steht er ja und … oh, oh, wir dachten, er ist tot …«
Jemand ruft aus der Menge. Es ist der Pastor von Sankt Lukas: »Ein Wunder! Gott schickt uns ein Zeichen! Diese Männer sind unsere Brüder!« Die Leute nicken. Manche brechen in Tränen aus.
Mr Eisenmann kommt durchs Fabriktor gelaufen. Er hat die Hemdsärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt, aber er sieht trotzdem wie ein König aus – ganz golden. Sein goldener Ring blitzt und seine dicke goldene Uhrkette glänzt, dass es blendet. Er spricht mit den Aufsehern, dann nimmt er den Oberaufseher mit und sie gehen zu dem Gefangenen mit den gelben Wolfsaugen. Sie stecken die Köpfe zusammen, und ihre Haare leuchten golden in der Sonne.
Schließlich beruhigen sich alle wieder. Mr Eisenmann hält eine Rede über Brüder und darüber, dass der Krieg die Familien auseinanderreißt. Er spricht auch über den Bürgerkrieg, über den ich gar nichts weiß, aber alle anderen, die nicht neu hier sind, wissen darüber Bescheid. Die Leute um mich herum weinen, und manche sagen leise zueinander, dass womöglich noch andere dabei sind: Brüder, Vettern, Onkel. Marta auf der anderen Straßenseite trocknet sich die Augen. Sogar der Wolf weint.
Als ich wieder zu Mrs Grunewald und Fritz Huber hinüberschaue,überlege ich, ob es vielleicht doch stimmt, was der Rabbi gesagt hat, nämlich dass alle Menschen Brüder sind, auch wenn sie verschieden aussehen – auch wenn sie aussehen wie Wölfe.
Jemand legt mir die Hand auf die Schulter. Ich drehe mich erschrocken um und hinter mir steht Papa. Sein Gesicht ist finster wie eine Gewitterwolke, sein Blick grimmig, und ich mache mich auf eine Abreibung gefasst. Ich ducke mich weg und stolpere über …
Da fällt er über mich her: Was machst du
+ + +
»… hier, Christian? Dieses Tablett kommt zu Mr Griffith ins Zimmer!«
Ich blinzelte und hätte Peggy das Essenstablett um ein Haar auf die Füße fallen lassen.
Dann piepste ein Monitor im Zimmer des Alten. Die Ärztin drehte sich flüchtig um und beugte sich wieder über den Patienten. Sie nahm seine Hand. »Hören Sie mich, Mr Witek? Blinzeln Sie bitte, wenn Sie mich hören.«
Das Gerät piepste weiter, und auf einmal juckte es mich in den Fingern. Ich dachte: Gebt mir einen Kugelschreiber, einen Bleistift, irgendwas …
»Haaallooo!« Peggy klang ein bisschen gereizt. »Mr Griffith wohnt zwei Türen weiter!«
»Huch …« Verwirrt schaute ich von dem Tablett zu Peggy und dann zu dem Alten im Bett. »’tschuldigung. Ich war … ich hab’s verwechselt.«
»Soso.« Peggy musterte mich misstrauisch, dann sagte sieetwas freundlicher: »Nicht so schlimm. Also los jetzt. Entschuldigen Sie bitte, Frau Doktor.«
»Kein Problem.« Die Ärztin sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nicht deuten konnte. »Alles in Ordnung mit dir?«
Ach, ich hab nur
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