Der Zeichner der Finsternis
ersetzen«, sagte die Ärztin. »Leider kann er uns nicht mehr mitteilen, ob er Schmerzen hat, und ich bin auf Vermutungen angewiesen. Ich habe seine Sedierung allmählich heruntergesetzt, weil ich sehen will, wie wach er wird. Ich möchte ihn nicht gern mit Medikamenten vollpumpen, aber er ist auf jeden Fall verwirrt. Er leidet nämlich an einer seltenen Wahnstörung, die man Intermetamorphose nennt – das ist die wahnhafte Überzeugung, dass eine Person sich in eine andere verwandeln und beide sozusagen den Körper tauschen können.«
Wenn mir das nicht bekannt vorkam! »Echt? Gibt es denn so was?«
»Natürlich nicht. Es handelt sich um ein Krankheitsbild, das durch eine schwerwiegende Fehlfunktion im Gehirn hervorgerufen wird. Ich weiß aber nicht, ob Mr Witek noch von solchen Wahnvorstellungen umgetrieben wird, denn er kann sich ja nicht verständlich machen. In der Hirnforschung gibt es viele Phänomene, die wir noch nicht abschließend ergründet haben. Du würdest staunen, wie viele Demente kurz vorihrem Tod wieder ganz klar werden. Warum das so ist, weiß man nicht, aber wir beobachten es sehr oft.«
»Dann kann Mr Witek also auch nicht mehr malen.«
»Ich weiß nicht, ob er früher gemalt hat. So wie ich es verstanden habe, stammen die Gemälde von …«
»Das führt jetzt aber wirklich zu weit«, unterbrach Mrs Krauss die Ärztin. »Ich weiß ja, dass Sie noch nicht lange hier leben, Frau Doktor, aber in einer Kleinstadt wie Winter kennt jeder jeden. Da wahrt man besser ein wenig Abstand und respektiert die Privatsphäre der anderen.«
Oha! Ich hatte da irgendwie andere Erfahrungen gemacht … Doch entweder hatte die Ärztin nicht verstanden, was Mrs Krauss meinte, oder sie wollte sich nicht einschüchtern lassen oder beides. »Um einen Patienten richtig zu behandeln, muss ich mich auch über seine Vorgeschichte informieren.«
»Wenn Sie meinen … Was Sie betrifft, Mr Cage«, Mrs Krauss wandte sich wieder mir zu, »Sie können jetzt gehen. Ich möchte mich noch einen Augenblick mit Frau Doktor unterhalten.«
Ich stand auf. »Es tut mir leid, ehrlich. Ich wollte Lucy nur helfen. Es war nicht böse gemeint.« Ich dachte an das Jugendgericht und setzte rasch hinzu: »Ich möchte wirklich gern weiter hier arbeiten.«
»Du hast schließlich nichts verbrochen, im Gegenteil«, sagte die Ärztin. »Das werde ich auch im Arztbericht vermerken. Nein, ich finde sogar, du warst richtig klasse.«
»Echt?«
»Oh ja. Das kann ich so zwar nicht in meinen Bericht hineinschreiben – aber solltest du noch einmal mit dem Gerichtzu tun bekommen, wird sicher auch mein Bericht über den Vorfall hinzugezogen. Ich dokumentiere das Ganze sowieso, und dazu gehört auch meine Beurteilung deines Verhaltens und deiner Leistung.«
Ich hatte den Eindruck, dass Letzteres mehr an Mrs Krauss gerichtet war als an mich, denn die Heimleiterin lief rot an. Wenn Blicke töten könnten, wäre die Ärztin auf der Stelle tot umgefallen.
»Vielen Dank.«
»Gern geschehen. Bis bald, Christian.«
+ + +
Es war kein Mond zu sehen, deswegen konnte ich mich auf der Heimfahrt nur mit meiner Fahrradlampe orientieren. Autos waren auch keine unterwegs, und als ich einsam und allein durch die Dunkelheit radelte, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf.
Zu behaupten, der Vorfall im Heim hätte mir Angst gemacht, wäre untertrieben gewesen. Nein, ich war inzwischen davon überzeugt, dass ich geisteskrank war, ein Irrer, wie er im Buche steht.
Beim ersten Mal hatte ich noch das Gefühl gehabt, dass irgendetwas mit mir , Christian Cage, passierte. Ich war zwar in den Körper von diesem David geschlüpft, aber ich hatte die ganze Zeit gespürt, dass irgendetwas in meinem/seinem Kopf nicht in Ordnung war.
Dieses Mal war ich aber nicht in Mr Witeks Körper übergewechselt, sondern buchstäblich im einen Augenblick hier und im nächsten woanders gewesen – und es war passiert,als ich die Gemälde an Mr Witeks Wand sah. Bei ihrem Anblick hatte mich der gleiche Sog erfasst wie damals, als ich in meinem Zimmer die Wände bemalt hatte … als wäre da eine Tür, die nur darauf wartete, dass ich den Mut aufbrachte, hindurchzugehen und die andere Seite zu betreten …
Trotzdem. Ich machte mir immer noch etwas vor. Das war nämlich nicht die ganze Wahrheit. Über die konnte ich weder mit der Ärztin noch mit sonst wem reden, denn alle hielten mich sowieso schon für gestört, auch wenn die Ärztin nett zu mir gewesen war. Das, was mit Lucy und mir
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