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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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mal eben einen kleinen Ausflug in einen fremden Körper gemacht. Diesmal war es ganz mühelos oder wie eine Art Zeitreise und ich war dabei wach …
    »Jaja.«
    »Wir haben alles im Griff, Frau Doktor.« Peggy schob mich hinaus. »Stimmt’s, Christian?«
    Später, als sich der abendliche Hochbetrieb gelegt hatte, stellte mir Peggy zum Glück keine weiteren Fragen, was mit mir los gewesen war.
    Ich hätte auch keine Antwort gewusst.

X
    Danach kribbelte und piekte es mich am ganzen Körper wie von lauter Ameisen. Was passierte eigentlich mit mir? Die Träume, der Alte im Bett … Ich kam einfach nicht damit klar. Diesmal war ich wach gewesen. Vielleicht hatte Sarah ja doch recht, und ich litt an irgendwelchen Anfällen. Im Kopf spürte ich eine Art Kratzen, als würden lauter spitze Nägel durch mein Hirn harken. Ich gab mir Mühe, mich zu beruhigen und die Sache nicht so ernst zu nehmen. Aber ich wusste genau, dass das Ganze keine Einbildung gewesen war – und auch kein Tagtraum. Es war wieder eine Zeitreise gewesen wie schon in der Scheune. Und sie hatte in der Tür zum Zimmer des Alten eingesetzt … Nein, das stimmt nicht ganz: Eigentlich war es erst losgegangen, als ich die Bilder betrachtet hatte.
    + + +
    Nachdem ich eine Stunde lang Tabletts eingesammelt und Leute wieder in ihre Zimmer verfrachtet hatte, sagte Peggy: »Bringst du bitte Mr Nelson zum Malkurs? Ich muss mal eine rauchen.«
    Im Gemeinschaftsraum waren bestimmt zwanzig Staffeleienaufgestellt. Als ich Mr Nelson im Rollstuhl reinschob, drehte sich der Kunstlehrer um und deutete auf einen freien Platz. Ein Block war auf die Staffelei geklemmt. Auf dem obersten Blatt sah man ein zittriges, halb fertiges Aquarell im japanischen Stil mit Bambuspflanzen und einer Art Vogel. Als ich die Pinsel sah, musste ich mich schwer beherrschen, um nicht zuzugreifen.
    »Nicht schlecht«, sagte ich, als ich Mr Nelson vor der Staffelei parkte und die Bremsen feststellte.
    Der alte Mann entblößte lächelnd die gelben Zahnstummel, die fast bis auf die Wurzeln abgenutzt waren. »Danke. Ich hab früher ein bisschen gemalt. Aber irgendwann kam ich nicht mehr dazu, weil ich eine Familie zu ernähren hatte.« Er wählte einen Pinsel aus und ich war in Versuchung, seine heftig zitternde Hand zu nehmen und ihm zu helfen, hielt mich aber zurück. Mr Nelson fuhr fort: »Jetzt ernährt meine Familie mich, und ich habe alle Zeit der Welt zum Malen.«
    Ich erwiderte: »Schön für Sie« oder so etwas, dann kam der Lehrer dazu, und ich trat ein Stück zurück. Der Drang, selbst zu malen, war überwältigend, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was eigentlich durch meine Hände aufs Papier gelangen wollte. Ich ging zur Tür und dachte dabei: Raus hier, bloß raus hier …
    »Junger Mann«, sagte da eine wohlbekannte, brüchige Stimme. »Junger Mann!«
    Lucy. Ich hatte gar nicht gesehen, dass sie auch hier war. Sie hob die Hand wie eine Schülerin. »Ich brauche Ihre Hilfe, junger Mann.«
    »Bin gleich bei Ihnen, Lucy!«, rief der Lehrer. Sein Blick fiel auf mich. »Kümmern Sie sich bitte kurz um sie?«
    Ich saß in der Falle. Lucys Bild war eine Katastrophe. Sie wollte offenbar ein Porträt kopieren, das vor vielleicht zehn Jahren jemand anders von ihr gemalt hatte. Das ältere Porträt war richtig gut – und ein bisschen beunruhigend. Der Blick des Betrachters wurde sofort auf die Augen gelenkt: blau, stechend, die Iris in scharfem Kontrast zu dem Weiß drum herum, als hätte ein Surrealist die Augen einer Puppe gemalt. Das übrige Gesicht war seltsam verschwommen, als wären zwei Lucys übereinander dargestellt. Dabei besaß das Ganze aber keine Tiefe und wirkte wie ausgeschnitten und aufgeklebt. Mir kam es jedenfalls vor, als wäre noch eine zweite Person zu sehen, aber nicht wie ein Schatten oder Geist, sondern so, als schlüpfte eine zweite Lucy aus der ersten heraus. Bis auf die leuchtend blauen Augen und Lucys knallroten Pullover gab es auf dem Bild kaum Farbtupfer. Das übrige Gesicht war Grau in Grau, durchzogen von ungesund gelben Schlieren, als ob Eiter aus den Poren quellen würde. Der Hintergrund war ein wüstes Geschmier aus verschiedenen kalten Grautönen, die zum Teil mit Blau und einer Spur Grün angemischt waren. Als hätte der Künstler ausdrücken wollen, dass es in Lucys Kopf drunter und drüber ging.
    Lucys Versuch, das Porträt abzumalen, beschränkte sich auf einen unförmigen Klecks in der Mitte ihres Blattes: ein schiefer Eierkopf mit Knopfaugen, die Nase

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