Der Zeichner der Finsternis
Kunstlehrer unterhalten. Er findet, Christian ist ein Naturtalent und macht das ganz wunderbar.« Zu mir gewandt sagte sie: »Ich bin übrigens derselben Meinung.«
Ich nickte. Mein Mund war wie ausgedörrt, und in meinen Ohren knackte es jedes Mal, wenn ich schluckte. Mir kam der Vorfall immer noch ganz unwirklich vor, als wäre er jemand anderem passiert.
»Lucy war früher Grundschullehrerin für Kunst«, erklärte mir die Ärztin. »Inzwischen hat sie Alzheimer und … du hast es ja gesehen.«
Ich leckte mir die Lippen. »War das Bild mit dem roten Pulli etwa ein Selbstporträt?«
»Ja. Damals war ihre Krankheit gerade ausgebrochen. Alzheimer befällt zwar das gesamte Gehirn, aber der rechteScheitellappen wird besonders in Mitleidenschaft gezogen.« Die Ärztin tippte sich an den Kopf. »Der gesunde Mensch überträgt beim Zeichnen die dort gespeicherten Informationen auf das Papier. Mit fortschreitender Krankheit ist Lucys Bild von sich selbst immer mehr verblasst.«
»Kann sie deswegen ihr eigenes Gesicht nicht mehr malen? Auch nicht, wenn sie es vor sich hat?«
»Richtig. Ihre Fähigkeiten haben derart nachgelassen, dass wir schon überlegt hatten, sie vom Malkurs auszuschließen, weil sie sich bei jedem misslungenen Versuch schrecklich aufregt. Jetzt bin ich natürlich froh, dass wir sie nicht herausgenommen haben, denn was du für sie getan hast, war … erstaunlich. Anscheinend hast du sie so weit beruhigt, dass sie wieder Zugang zu ihren visuellen Erinnerungen hatte. Ich bin aber ziemlich sicher, dass ihre Zeichnung vor allem auf motorischer Erinnerung beruht, denn sie hat offenbar ein sehr viel früheres Selbstporträt wiederholt. Das Bild zeigt sie ja als junges Mädchen, deswegen auch der Sonnenschirm, das lange Kleid und die altmodische Lokomotive.« Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Wirklich verblüffend. Du hast offenbar eine echte Begabung für so etwas.«
Gut erkannt. Zum Glück hatte meine Begabung diesmal niemanden umgebracht. »Leidet der alte Mann mit den vielen Gemälden im Zimmer an der gleichen Krankheit?«
Mrs Krauss sagte missbilligend: »Wir tratschen hier nicht über unsere Bewohner.«
Entweder hatte die Ärztin die Bemerkung nicht mitbekommen oder sie überhörte sie absichtlich. »Mr Witek? Nein. Mr Witek hatte zwei linksseitige Schlaganfälle.«
Mrs Krauss beugte sich über ihren Schreibtisch. »DenkenSie bitte an Ihre Schweigepflicht, Frau Doktor, und geben Sie keine vertraulichen Informationen preis.«
Die Ärztin erwiderte kühl: »Es handelt sich lediglich um Informationen, die der angemessenen Versorgung des Patienten dienen. Oder ist es Ihnen lieber, wenn Christian planlos vor sich hinwurstelt?«
Mrs Krauss war sichtlich eingeschnappt, aber sie schüttelte den Kopf.
Die Ärztin fuhr fort: »Der letzte Schlaganfall ist erst drei Wochen her. Unser Gehirn funktioniert so, dass sich ein Schlaganfall in der linken Hirnhälfte auf die Funktionen der rechten Körperhälfte auswirkt. Mr Witek ist rechtsseitig gelähmt, deswegen hat er auch ein schiefes Gesicht. Natürlich hatte er schon vorher erhebliche Gedächtnisprobleme, doch nach dem letzten Schlaganfall kann ich ihn noch gar nicht einschätzen. Ich gehe aber davon aus, dass sich sein Zustand diesbezüglich noch verschlechtert hat. Er wurde erst vor ein paar Tagen wieder zu uns zurückgebracht. Im Krankenhaus kann man nicht mehr viel für ihn tun.«
»Warum nicht?«
»Weil er bald sterben wird. Von den Schlaganfällen abgesehen leidet er an Alzheimer im Endstadium. Damit leben die meisten Patienten noch zehn, höchstens fünfzehn Jahre. Mr Witek ist seit etwa zehn Jahren krank. Er kann nicht mehr selbstständig essen und trinken. Wir geben ihm nur Flüssigkeit und sorgen dafür, dass er keine Schmerzen hat.«
»Wie lange kann er auf die Weise noch leben?«
»Nicht mehr sehr lange. Er hat schon vor dem Schlaganfall kaum noch etwas gegessen, und jetzt braucht sein Körper sich selbst auf. Ein ganz normaler Sterbevorgang. Ichwürde sagen, er hat noch ein paar Wochen, vielleicht einen Monat zu leben.«
»Können Sie ihn denn nicht durch einen Schlauch ernähren?«
»Das lehnt er in seiner Patientenverfügung ab. Irgendjemand hat da eine Vollmacht, vielleicht ein Verwandter. Allerdings kann ich mich nicht entsinnen, dass er schon einmal Besuch bekommen hätte.« Sie schaute Mrs Krauss fragend an. »Hat Mr Witek irgendwelche Angehörigen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Dann müssen wir ihm die Angehörigen
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