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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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Rainier zog einen dritten Stuhl an den Tisch. Als ich mich gesetzt hatte, fragte sie: »Was ist denn nun eigentlich passiert?«
    Was sollte ich den beiden erzählen? Mal überlegen … Wie wär’s mit: Ich bin in ein Zimmer gegangen, das ich nicht betreten sollte. Dort hängt ein Gemälde, das genauso aussieht wie eine Zeichnung, die ich in der Nacht gemacht habe, in der ich auch die Hakenkreuze und die Augen auf Eisenmanns Scheune gesprüht habe. Außerdem habe ichdem Alten seine Pinsel geklaut. Danach habe ich plötzlich Lucy vor mir gesehen, so wie ich sie beziehungsweise wie sie sich selbst mit meiner Hilfe gemalt hat, indem ich irgendeine unbekannte Kraft angezapft habe. Plötzlich habe ich gesehen oder gespürt, wie Lucy ihren eigenen Tod gemalt hat. Ich habe rasende Kopfschmerzen und Nasenbluten bekommen. Ich habe alles vollgeblutet und bin ins Nachbargebäude gerannt. Ach ja, und ich konnte auf einmal Gedanken lesen, aber das ging gleich wieder vorbei.
    Und da wäre noch etwas, Frau Doktor: Ich glaube nämlich, dass das arme Baby, das in Ihren Kamin eingemauert war, irgendwie damit zusammenhängt.
    Ausgeschlossen. Ich konnte auf gar keinen Fall die Wahrheit sagen. Eine passende Lüge, die alles erklärt hätte, fiel mir aber auch nicht ein. Darum fragte ich zurück: »Glauben Sie an Gedankenübertragung?«
    Onkel Hank verzog das Gesicht. Ich rechne Dr. Rainier hoch an, dass sie nicht mit der Wimper zuckte. »Als Psychotherapeutin müsste ich deine Frage eigentlich mit der Gegenfrage beantworten, ob du daran glaubst, aber … Manchmal wäre ich ganz froh, wenn ich die Gedanken meiner Patienten lesen könnte. Ich kenne ein paar hervorragende Therapeuten, die ihr Einfühlungsvermögen zu einer hohen Kunst entwickelt haben. Auch ist allgemein bekannt, dass Paare in engen Langzeitbeziehungen recht gut wissen, was der Partner gerade denkt. Es gibt Berichte darüber, dass eineiige Zwillinge gegenseitig ihre Sätze zu Ende führen.« Sie sah mich an. »Man könnte diese Phänomene für Gedankenübertragung halten. Wahrscheinlicher ist aber, dass sich die Betreffenden, genau wie ein einfühlsamer Therapeut, an subtilennonverbalen Äußerungen orientieren. Auch Fachleute für Körpersprache erwecken manchmal den Eindruck, sie könnten Gedanken lesen.«
    »Sie glauben also nicht daran.«
    »An Gedankenübertragung? Nein – leider nicht. Ich habe zwar im Studium eine Facharbeit über dieses Thema geschrieben, aber das sagt wohl eher etwas über mich selbst aus. Hast du das Gefühl, du könntest die Gedanken anderer Menschen lesen?«
    »Ich weiß nur, dass ich in Mr Witeks Zimmer gegangen bin, weil es mir vorkam, als ob …«, ich zögerte, »… als ob mich jemand gerufen hätte. Vielleicht lag es an den Gemälden, ich weiß auch nicht.«
    »Du meinst, weil du auch gern malst?«
    Ich nickte. »Aber als ich dann drin war«, ich schielte zu Onkel Hank hinüber, »da habe ich entdeckt, dass ich mal eine Stadtansicht gezeichnet habe, die genauso aussieht wie eins von Mr Witeks Gemälden.«
    Onkel Hank fuhr zusammen, was Dr. Rainier allerdings nicht mitbekam. »Offenbar hast du Mr Witeks Gemälde schon vorher gesehen«, sagte sie vernünftig.
    »Nein. Als ich die Stadtansicht gezeichnet habe, habe ich noch gar nicht im Heim gearbeitet. Ich habe das Bild in der Nacht gezeichnet … in der ich anscheinend auch Mr Eisenmanns Scheune angesprüht habe. Ich hol mal eben meinen Block. Bin gleich wieder da.«
    Keine Ahnung, worüber sie sich unterhielten, während ich weg war, aber als ich wieder in die Küche kam, hörte ich Onkel Hank noch sagen: »Das wusste ich auch noch nicht«, dann verstummten beide.
    Ich drehte den Block so, dass sie draufschauen konnten.
    »Das hier ist meine Zeichnung. Sie stimmt genau mit Mr Witeks Gemälde überein, sogar der Rauch aus den Fabrikschornsteinen weht in die gleiche Richtung.«
    Dr. Rainier und Onkel Hank betrachteten die Stadtansicht eine volle Minute lang, dann tippte Dr. Rainier auf den Zwiebelturm. »Was ist das? Gibt es hier in Winter so ein Gebäude?«
    Onkel Hank schüttelte den Kopf.
    »Es sieht irgendwie russisch oder osteuropäisch aus.«
    »Es heißt ›die weiße Dame‹«, sagte ich, und als mich die beiden verwundert ansahen, setzte ich hinzu: »Jedenfalls habe ich das so gehört.«
    »Von wem?«, wollte Dr. Rainier wissen.
    »Ganz sicher bin ich nicht, aber ich glaube, Mr Witek hat mir den Namen übermittelt. Und zwar auf die gleiche Weise, wie mir Lucy ihr Selbstporträt mit

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