Der Zeichner der Finsternis
Tag frei – super. »Klar.«
»Gut«, sagte sie lächelnd. Als sie aufstand, strich sie Onkel Hank ganz leicht über den Arm. »Das wird schon alles werden.«
Onkel Hanks Stimme klang belegt. »Hoffentlich, Helen.«
Helen?
+ + +
Ich hatte keinen Hunger. In meinem Kopf und Magen ging es drunter und drüber. Aber Onkel Hank machte Rührei mit Bratkartoffeln und überredete mich. Wenigstens aßen wir schweigend. Nachdem ich ebenfalls schweigend abgewaschen hatte, sagte ich: »Ich geh dann mal ins Bett.«
»Ist gut.« Er saß mit dem fast leeren Kaffeebecher am Tisch. »Schlaf schön.«
Ich ging raus, blieb aber in der Diele stehen und fragte: »Warum ist Dr. Rainier eigentlich so hilfsbereit?«
Er machte sein undurchdringliches Sheriffgesicht, wie immer, wenn er sich nicht in die Karten gucken lassen will. »Jeder Arzt, der etwas taugt, kümmert sich um seine Patienten.«
»Aber sie hat …« Ich wollte nicht ›gelogen‹ sagen. »Sie hat mir richtig in den Mund gelegt, was ich sagen soll. Ist so was erlaubt?«
»Sie hat dir nur gezeigt, wie du dir Schwierigkeiten ersparen kannst.«
»Aha.« Ich gab mir einen Ruck. »Du magst sie gern, oder?«
Erst dachte ich, er würde gar nicht antworten. Ich staunte ja selbst, dass ich überhaupt gefragt hatte. Mein Onkel und ich sprechen nicht oft über Persönliches.
Er schaute in seinen Becher, dann hob er den Kopf und sagte: »Ich habe deine Tante sehr geliebt. Aber ich bin oft einsam und Dr. Rainier … sie ist eine kluge, eine starke Frau. Sie hat Mumm.«
Und sie sieht gut aus. Aber das verkniff ich mir.
»Ja, ich mag sie gern, sogar sehr gern. Aber ich habe nicht die Absicht, irgendetwas in der Richtung zu unternehmen.«
Ich traute meinen Ohren nicht. Onkel Hank musste wirklich ziemlich erledigt sein, sonst wäre er niemals so offen gewesen. Er ist ja nicht nur so zurückhaltend, weil er Sheriff ist, sondern auch, um mich zu schützen. Glaube ich jedenfalls. In der Stadt wird bestimmt eine Menge gequatscht, lauter dummes Zeug, von dem ich nichts mitbekomme, nicht mal jetzt – weil Onkel Hank nicht will, dass ich noch mehr darunter leide als sowieso schon.
Es hatte bereits ein paar Versuche gegeben, ihn zu verkuppeln.Er ist ja erst einundvierzig. Manchmal kommt er mir viel älter vor, aber das liegt daran, dass die Verantwortung in seinem Beruf so schwer auf ihm lastet. Er hat mal gesagt, dass man erst begreift, wie furchtbar der Tod ist, wenn man am Abend der Abschlussfeier vor einem toten Abiturienten steht.
Dass er über Dr. Rainier sprach, als hätte sich die Sache bereits erledigt, fand ich schade. »Warum denn nicht? Wenn du sie doch gern hast … Tante Jean hätte bestimmt nichts dagegen.«
»Weiß ich, aber das ist nicht der Punkt. Deine Tante und ich haben sogar über solche Dinge gesprochen. Es geht zwar hier in Winter ziemlich ruhig zu, und wir hatten schon ewig keinen Mordfall mehr, aber irgendwas passiert immer. Dein Urgroßvater ist bei einem Brand umgekommen. Man kann von einem Betrunkenen überfahren werden, nicht zu vergessen Glatteis, Wirbelstürme und irgendwelche Idioten, die mit dem Auto auf den See rausfahren, obwohl das Eis noch nicht trägt. Das Leben ist lebensgefährlich, wie es so schön heißt. Darum haben wir uns immer mal wieder darüber unterhalten, wie es weitergehen sollte, wenn einem von uns etwas zustößt – allerdings eher mir, dachten wir, nicht ihr.« Er blickte mich durchdringend an. »Ich habe mir oft gewünscht, es hätte mich erwischt.«
Mir schnürte sich die Brust zusammen, und meine Augen brannten. Onkel Hanks Gesicht verschwamm, mir wurde ganz schwummerig und dann heulte ich schon wieder Rotz und Wasser. Oh ja, er würde mich hassen, wenn er wüsste …
Das Allerschlimmste daran war, dass Onkel Hank natürlich dachte, ich würde heulen, weil ich Angst um ihn hatte –was ja auch stimmte. Daraufhin machte er sich Vorwürfe, weil er mich aufgeregt hatte. Er zog mich an sich, tätschelte mir den Rücken und zerstrubbelte mein Haare, so wie früher, als ich zehn war. Dabei brummelte er, dass alles gut würde.
Als er mich wieder losließ, hatte er feuchte Augen. »Geht’s wieder?« Ich bin zehn Zentimeter kleiner als er, deshalb bückte er sich ein bisschen, um mir in die Augen zu schauen. »Wir stehen das durch, wie wir bis jetzt alles durchgestanden haben, okay?«
Ich nuschelte »Klar« und »Danke«, dann ging ich hoch.
Erst oben fiel mir auf, dass Onkel Hank meine Frage nicht beantwortet
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