Der Zeichner der Finsternis
dem Sonnenschirm übertragen hat.«
»Welches Selbstporträt denn nun schon wieder?«, fragte Onkel Hank.
»Das Selbstporträt hat Lucy gezeichnet, Christian«, sagte Dr. Rainier nachdrücklich. »Du hast einen beruhigenden Einfluss auf sie ausgeübt, und sie konnte das Porträt aus ihrem Gedächtnis abrufen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, so war es nicht. Es war Gedankenübertragung. Lucy hat mir die Hand geführt.«
Dr. Rainier machte ein skeptisches Gesicht, Onkel Hank ein verständnisloses. Dann erwiderte Dr. Rainier: »Du irrst dich, Christian. Dabei war nichts Übersinnliches im Spiel,und es hat auch nichts mit dem zu tun, was …« Sie unterbrach sich. »Was ist denn, Hank?«
Onkel Hank schlug die Hand vor den Mund, als wollte er sich selbst am Sprechen hindern. Er blickte zwischen mir und Dr. Rainier hin und her, dann nahm er die Hand weg. »Sie haben doch Christians Akte gelesen, nicht wahr? Dann wissen Sie ja auch über Betty Stefancyzk Bescheid.«
»Schon, aber …« Dr. Rainier musterte uns auf einmal wie zwei exotische Insekten. »Das ist nicht Ihr Ernst, Hank! Das glauben Sie doch wohl selbst nicht! Die Frau war psychisch krank. Sie hat ihre Medikamente nicht genommen. Sie war wahnhaft auf Christian fixiert.«
»Das kann ja alles sein, aber finden Sie es nicht auch auffällig, dass Miss Stefancyzk und diese Lucy … dass beide, äh, Zwischenfälle mit Christians Zeichnungen zu tun haben? Bei Miss Stefancyzk war es ein Bild von einem Haus, das Christian in der Schule gemalt hat. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie, es sei ihr Bild gewesen, und Christian hätte ihre Gedanken angezapft und es ihr geklaut . So wie Sie es schildern, war es mit dem Selbstporträt dieser Lucy das Gleiche.«
Dr. Rainier öffnete und schloss stumm den Mund wie ein Fisch.
»Das kann einfach kein Zufall sein«, sagte Onkel Hank so leise, dass er kaum zu verstehen war. Er wandte sich wieder mir zu. »Warum hast du Dr. Rainier vorhin gefragt, ob sie an Gedankenübertragung glaubt?«
Ich gab mir Mühe, ruhig zu bleiben. »Weil ich in Gedanken gesehen habe, wie Lucy ihren Tod gemalt hat.« Ich zeigte auf meinen Block. »Das hier habe ich gezeichnet . Ich hatteMr Witeks Gemälde noch nie gesehen, aber beide Bilder sind haargenau gleich.«
Onkel Hank lachte mich nicht aus. Er sagte auch nicht: »Spinner!« Er fragte nur: »Und?«
»Ich glaube, dass mir Mr Witek mitgeteilt hat, wie die Stadtansicht aussehen muss.«
»Mr Witek kann aber nicht sprechen«, wandte Dr. Rainier ein.
»Er hat es mir ja auch nicht mit Worten mitgeteilt.«
XVII
Dabei beließen wir es. Was gab es dazu auch noch groß zu sagen? Ich hatte jedenfalls nicht vor, alles auf den Tisch zu legen, ich hatte so schon genug Probleme.
Als Dr. Rainier ging, sagte sie: »Es ist wohl das Beste, wenn du diese Woche nicht mehr ins Heim gehst und erst am Montag wiederkommst, Christian. Bis dahin haben sich die Wogen wieder einigermaßen geglättet.«
»Glauben Sie, die Heimleitung nimmt ihn überhaupt noch?«, fragte Onkel Hank.
»Im Grunde hat er ja nichts Böses gemacht.« Zu mir sagte sie: »Ich sehe das so: Du hast dich für Mr Witeks Gemälde interessiert, du hast versucht, mit ihm zu sprechen, und dann hast du Nasenbluten bekommen. Stimmt das in etwa?«
»Äh …« Eigentlich ja nicht. »Hmmm. Was ist mit Lucy und Stephanie?«
»Das lass meine Sorge sein. Ich muss erst noch über das nachdenken, was du mir erzählt hast, aber man kann dich bestimmt nicht hinauswerfen, weil du eine Vorahnung hattest.« Sie blickte mich eindringlich an. »Stimmt doch, oder?«
Ich begriff, worauf sie hinauswollte, und nickte.
Ihr Blick wurde milder. »Siehst du – und das werde ich auch in meinem Bericht schreiben. Den Vorfall mit Stephaniezu erklären, wird ein bisschen knifflig. Aber du hattest starkes Nasenbluten und warst durcheinander. Eigentlich ist ja nichts Schlimmes passiert, außer vielleicht, dass Stephanies Würde gelitten hat. Womöglich hast du Mr Witek sogar etwas Gutes getan. Er hat auf dich reagiert und die Augen geöffnet, das hat bis jetzt noch keiner geschafft. Vorhin habe ich noch einmal nach ihm gesehen. Sagen wir mal so: Er ist noch nicht fit genug für eine Partie Golf, aber sein Zustand hat sich auch nicht verschlechtert. Ach übrigens, könntest du auch schon morgen in meine Praxis kommen statt am Freitag?«
Von mir aus gern. Am Freitag hatten die Lehrer nämlich ihren Fortbildungstag und ich hatte keine Schule. Dann hätte ich den ganzen
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