Der Zeichner der Finsternis
hatte.
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Verständlicherweise konnte ich nicht einschlafen.
Ich lag im Bett und schämte mich. Ich hatte mich schon darauf eingerichtet, abhauen oder mich umbringen zu müssen, aber Onkel Hank hielt eisern zu mir. In seinen Augen war ich kein schlechter Mensch.
Ich fühlte mich wieder wie ein Fünfjähriger, der einfach nur hören will, dass alles gut wird. Vielleicht geht das ja jedem mal so. In Geschichte sprechen wir gerade über den Irakkrieg – viele junge Männer aus unserer Gegend sind beim Militär –, und irgendwer hat behauptet, Verwundete würden immer nach ihrer Mama rufen. Daraufhin gab es Gekicher und der Lehrer hat uns zusammengeschissen. Ich habe nicht gelacht. Vielleicht kann man das nicht nachvollziehen, wenn man die ganze Zeit mit seinen Eltern zusammenist und sich irgendwann alle auf die Nerven gehen. Ich hingegen kann das gut verstehen.
Trotzdem kam ich zu dem Schluss, dass es keinen Zweck hatte zu jammern. Ich war schließlich siebzehn! Okay, ich hatte ein bisschen Schiss vor dem Studium und so, aber eigentlich hat man es als Student doch total leicht. Man kriegt immer noch alles vorgesetzt: Mahlzeiten, Stundenplan und so weiter. Man braucht nur in die Vorlesungen zu gehen, seine Hausarbeiten zu schreiben und sich mit einer Waschmaschine auszukennen.
Jemand wie Onkel Hank dagegen bekam in seinem Beruf immer wieder Schreckliches zu sehen und musste damit klarkommen. Für Dr. Rainier galt dasselbe. Die beiden drückten sich nicht vor der Verantwortung – und ich würde mich auch nicht drücken.
Ich stand wieder auf, ging zu meinem Schreibtisch und holte die Pinseltasche aus der Schublade. Die Pinsel lagen so selbstverständlich in meiner Hand wie schon in Mr Witeks Zimmer. Als ich sie an mich genommen hatte, hatte Mr Witek die Augen aufgeschlagen. Das hatte etwas zu bedeuten.
Schluss mit dem Selbstmitleid! Was mit mir vorging, machte mir immer wieder schreckliche Angst. Aber ich konnte die Zeichen und Botschaften nicht übersehen. Ich musste nur noch herausfinden, was sie mir sagen wollten.
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Ich tat Folgendes: Ich fuhr den Rechner hoch und tippte eine Liste. Sie war ziemlich kurz: Mr Witek, die »weiße Dame«, der Mord von 1945, der Brand im Herbst desselben Jahres.Nach kurzer Überlegung ergänzte ich einige Punkte: Marta, der Anderson-Hof, die Wohnheime der Fabrik, die Gefangenen.
Ich druckte die Liste aus und startete die Suche.
Was Marta betraf, kam ich ohne Nachnamen nicht weiter. Auch Anderson-Hof war eine Fehlanzeige. Über die Stichworte Eisenmann plus Fabrik kam ich auf die Homepage der Firma, die eine kurze, nicht besonders hilfreiche Chronologie der Familie Eisenmann enthielt. Der Firmengründer Sigismund Friedrich Eisenmann war 1856 mit seiner zweiten Frau und neun Kindern aus Deutschland in die USA eingewandert. Sigismund war ein Bauerssohn und träumte davon, Geschäftsmann zu werden. Er ließ sich erst in Chicago nieder, wo er tagsüber als Schuhverkäufer arbeitete und abends zur Schule ging, bis er nach sieben Jahren einen Abschluss in Hüttenwesen erwarb. Kurz darauf lernte er bei einem Verwandtenbesuch in Wisconsin einen ortsansässigen Geschäftsmann namens Kramner kennen, ebenfalls ein Deutscher, der eine vom Bankrott bedrohte Eisengießerei übernehmen wollte. Die beiden taten sich zusammen, kauften die Gießerei und führten sie zehn Jahre lang gemeinsam als Kramner-Eisenmann-Betriebe. Sie stellten landwirtschaftliche Geräte und Alltagsgegenstände wie gusseiserne Badewannen, Installationsrohre und Küchengerätschaften her. Nach dem Tod seines Partners war Sigismund Eisenmann Alleininhaber, seither war die Firma in Familienbesitz. »Unser« Mr Eisenmann, Charles, war ein Urenkel von Sigismund. Inzwischen führte sein Sohn Jonathan die Geschäfte, aber der alte Charles hatte immer noch das letzte Wort.
Eins war allerdings interessant: Als die Firma unter derLeitung von Sigismund Eisenmann expandierte, herrschte Arbeitskräftemangel. Es gab damals – wie heute – in Wisconsin viele Einwanderer aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, die in den 1840er Jahren in mehreren Wellen nach Amerika gekommen waren. Als Sigismund nach Wisconsin zog, hatten diese ersten Einwanderer bereits Gemeinden gegründet und nahmen Zuzügler mit offenen Armen auf. Sigismund begriff rasch, dass er für seine Fabrik Fachkräfte anwerben konnte, wenn er ihnen nicht nur Landsleute als Kollegen, sondern auch Unterstützung bei der Integration in die amerikanische
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