Der Zeichner der Finsternis
spannte sich ein beschriebener Pergamentstreifen. Ich hatte angenommen, dass die Rolle senkrecht gelesen wurde, aber das war offenbar ein Irrtum. Als ich das Bild vergrößerte, erkannte ich die gleichen stilisierten Buchstaben wie auf Mr Witeks Mesusa. Der Pergamentstreifen war bestimmt einen Meter hoch.
ccage: Die ist ja riesig!
sarah13: So ein Ding wiegt bis zu 20 Kilo. Wenn jemand die Thorarolle fallen lässt, muss die ganze Gemeinde einen Monat lang fasten, hab ich gelesen. Die Thorarolle ist der allerheiligste Gegenstand in der ganzen Synagoge. In dem Artikel stand, dass eigentlich ein Mitglied der Gemeinde die Rolle aus dem Feuer retten wollte, aber dein Urgroßvater hat den Betreffenden zurückgehalten und ist selber reingelaufen. Dann ist das Dach eingestürzt.
Ob Onkel Hank das wusste? Zehn zu eins, dass nicht. Das gehörte bestimmt auch zu den Dingen, über die man in Winter lieber schwieg. Und wir Schüler sollten Referate in Heimatkunde halten! Wie war das – »Geschichte wird von den Siegern geschrieben«? Tja, anscheinend hatten die Sieger alles unter den Teppich gekehrt, was ein Schandfleck auf der Geschichte unserer Stadt hätte sein können. Zum Glück gab es die alten Zeitungen noch.
Eigentlich kein Wunder. Ich selbst war das beste Beispiel für etwas, woran die Leute nicht erinnert werden wollten. Ich wurde einfach ignoriert, bis ich hoffentlich irgendwann von selbst verschwand. Es gab so einiges, was die Einwohner von Winter am liebsten vergessen hätten. Die deutschen Kriegsgefangenen, der Mordfall und der Brand waren nur drei Beispiele von vielen.
Vielleicht hatte der Brand das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Nach allem, was schon vorgefallen war, hatten es die Juden nicht mehr in Winter ausgehalten.
Wie einem wohl zumute war, wenn nach und nach alle Freunde und Bekannten verschwanden? Bestimmt war der kleine David Witek wegen seines Vaters schon vorher zum Außenseiter geworden. Seine Freunde hatten sich einer nach dem anderen von ihm abgewandt. Pavel wollte nicht länger mit ihm am Seil schaukeln, die anderen Kinder in der Schule redeten nicht mehr mit ihm, stießen sich an, wenn er vorbeiging, und tuschelten hinter seinem Rücken. Die Schule musste die reinste Qual für ihn gewesen sein.
Wie gut ich das alles kannte! So was erlebte ich schließlich jeden Tag. Bloß dass ich nicht abgehauen war – noch nicht. Ich setzte meine ganze Hoffnung auf das Studium.
Nur eins wollte mir nicht in den Kopf: Wieso war Mr Witek nach alldem zurückgekommen?
+ + +
sarah13: Huuuhuuu! Lebst du noch?
Ich riss mich zusammen.
ccage: Hab bloß nachgedacht. Das ist ein ganz schöner Hammer.
Da war doch noch was …
ccage: Hast du übrigens rausgekriegt, WO die Synagoge früher war?
sarah13: Ecke Achte Straße/North Lake Street. Ich schick dir noch ein Foto.
Der Link führte zu der eingescannten Seite acht der Milwaukee-Post vom 5. November 1945. Der einspaltige Artikel stand rechts unten. Die Überschrift lautete: 15 TOTE BEI BRAND IN SYNAGOGE. Darüber war ein Schwarzweißfoto des Gebäudes vor der Zerstörung.
Ach so! , dachte ich.
Die »weiße Dame« war eine Synagoge.
XXIII
Wir chatteten noch eine Weile. Ich erzählte Sarah, dass die Rechtsmedizinerin sich angesagt hatte, und sie kriegte sich gar nicht mehr ein. Bevor wir uns ausloggten, schrieb sie noch:
sarah13: Fast vergessen: Ich hab auch nach dieser Catherine Bleverton gesucht. Sie war ja wohl mit Mr Eisenmann verlobt, aber geheiratet hat er eine Judith, keine Catherine.
Das war mir tatsächlich durchgerutscht.
ccage: Schieß los!
sarah13: Ist leider nicht viel. Catherine Bleverton war die Tochter eines Brauereibesitzers aus Milwaukee. Sie ist 1946 ertrunken.
ccage: Ein Jahr nach dem Mord?
sarah13: Eher ein halbes. Bei einem Bootsunfall. In der Zeitung stand nicht viel, aber wenn man zwischen den Zeilen liest, hat sie wohl einen auf Natalie Wood gemacht.
ccage: Wer ist das denn?
sarah13: *Augen verdreh* Natalie Wood war eine berühmteSchauspielerin, die Anfang der 80er betrunken aus ihrem Boot gekippt ist. Als Catherine Bleverton ums Leben kam, war Eisenmann dabei und hat ausgesagt, sie hätte zum Abendessen fast zwei Flaschen Wein getrunken. Erst eine Woche nach dem Unfall wurde ihre Leiche an Land geschwemmt.
ccage: Wurde eine Obduktion durchgeführt?
sarah13: Keine Ahnung. Es war schließlich ein Unfall, und das Ganze ist 1946 passiert – oder glaubst du etwa, da gibt’s einen
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