Der Zeichner der Finsternis
auch was darüber gefunden , löschte es aber sofort wieder. Sarah war stolz auf ihre Entdeckungen. Sie hatte sich meinetwegen viel Mühe gemacht. Und mir fiel wieder ein, was sie neulich über mich gesagt hatte: dass ich es den Leuten schwer machte, nett zumir zu sein (Dr. Rainier hätte natürlich auf eine selbsterfüllende Prophezeiung getippt – wetten?). Ich schrieb also:
ccage: Erzähl!
Sarah berichtete mir ausführlich alles, was ich schon wusste. Sie freute sich aber so über ihre Entdeckungen, dass ich sie nicht unterbrechen mochte. Doch dann schrieb sie:
sarah13: … und manchmal öffnete jemand die Tür, und der verschollene Bruder oder Cousin stand davor. Irre, was?
Wie bitte? Ich schrieb zurück:
ccage: Häh? Gab es denn in Winter Leute, deren Verwandte Nazis waren?
sarah13: Nazis weiß ich nicht, aber deutsche Soldaten auf jeden Fall. Viele Deutsche in den USA hatten noch Verwandte in ihrer früheren Heimat, und von denen waren logischerweise auch viele beim Militär. Wenn sie dann in Gefangenschaft gerieten und nach Amerika gebracht wurden, versuchten sie natürlich, ihre Verwandten ausfindig zu machen.
ccage: Durften sich die Gefangenen denn frei bewegen?
sarah13: Kommt drauf an. In manchen Städten waren die Leute misstrauisch und wollten die Gefangenen am liebsten schnell wieder loswerden. Woanders, in Sheboygan zum Beispiel, wurden sie einigermaßen freundlich aufgenommen. Zum Teil waren die Aufseher nicht mal bewaffnet. Keiner versuchte zu fliehen – wohin auch? Die Männer wurden versorgt, hatten Arbeit und verdienten Geld. Wozu sollten sie fliehen?
ccage: Und wie lief das in Camp Winter?
sarah13: In dem Zeitungsartikel stand ja schon, dass Eisenmann den Gefangenen seine Wohnheime zur Verfügung gestellt hat (damals war er noch total JUNG!). Die Männer arbeiteten auf dem Feld und in der Fabrik. Das ärgerte die Gewerkschafter, und sie planten einen Streik. Aber dann kamen mehrere Funktionäre bei einem Brand ums Leben, und der Streik hatte sich erledigt. Das war auch nach dem Mord, und wahrscheinlich waren die Gewerkschafter einfach runter mit den Nerven.
ccage: Wie kam es zu dem Brand?
sarah13: Das wurde nie richtig geklärt. Angeblich war es Brandstiftung. Das Ganze erregte jedenfalls großes Aufsehen. Es hieß, Eisenmann habe der Gewerkschaft das Genick gebrochen. Es ging sogar das Gerücht um, seine Leute hätten das Feuer gelegt. Er selbst war aber aus dem Schneider, weil er nach dem Mord an Walter Brotz im Krankenhaus lag. Mr Witeks Vater hat ihn schlimm zugerichtet, stand im Milwaukee-Journal . Deswegen hat er auch die Narben im Gesicht. Damals wurde nichts weiter unternommen, um aufzuklären, ob Eisenmann hinter dem Brand steckte.
ccage: In dem einen Artikel aus dem Stadtarchiv stand doch, dass die Kirchengemeinden gegen die Gewerkschaftsversammlungen waren. Hast du darüber auch was gefunden?
Ich setzte hinzu:
Warte mal – wann war der Brand? Etwa an dem Sonntag, an dem die Gewerkschafter ihre Versammlung abhalten wollten?
sarah13: Nein, eine Woche drauf, am Samstagabend nachdem Gottesdienst – der jüdische Sabbat dauert nämlich von Freitagabend bis Samstagabend.
ccage: Echt?
sarah13: Wenn du Jude wärst, wüsstest du das. Auf der Versammlung waren auch Nichtgewerkschafter mit ihren Familien. Bei dem Brand sind fünfzehn Leute umgekommen. Bis auf zwei waren alle Juden.
Mir drehte sich der Magen um. Fünfzehn unschuldige Menschen, überwiegend Juden, waren bei lebendigem Leibe verbrannt – das musste die Überlebenden doch fatal an die Konzentrationslager in Deutschland erinnert haben.
Sarah schrieb weiter:
sarah13: Dein Urgroßvater war übrigens auch unter den Toten. Im Milwaukee-Journal stand, er hat vier Personen aus dem Feuer gerettet und ist dann noch mal reingegangen.
Das war mir neu. Onkel Hank hatte nie davon gesprochen. Ich wusste nur, dass mein Urgroßvater bei einem Brand ums Leben gekommen war.
ccage: Wollte er noch mehr Leute retten?
sarah13: Nein. Er wollte die Thorarolle holen.
ccage: ???
sarah13: Die Schriftrolle mit den ersten fünf Büchern der Bibel. Die Juden nennen sie auch die Fünf Bücher Mose; der ganze Text ist handgeschrieben. Ich schick dir mal ein Foto.
Ein Link erschien, und ich klickte ihn an.
sarah13: Hast du’s?
ccage: Ja.
Auf dem Bild sah man einen breitschultrigen Mann, der in jeder Hand eine Holzrolle mit Griffen daran hielt. Er breitete die Arme aus, und zwischen den beiden Rollen
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