Der Zeitdieb
Stahl her.
Es gibt Kohleland, Rindfleischland und Grasland. Die Welt ist voller Land, in dem Dinge dem Land selbst und seinen Bewohnern Gestalt geben. Und hier oben in den hohen Tälern bei der Mitte, wo der Schnee nie sehr weit entfernt ist, erstreckt sich Erleuchtungsland.
Hier wohnen Leute, die wissen, dass es gar keinen Stahl gibt, nur die Vorstellung davon. 5 Sie benennen neue Dinge, und auch Dinge, die gar nicht da sind. Sie suchen nach der Essenz des Seins und der Natur der Seele. Sie schaffen Weisheit.
Tempel stehen in allen Gletschertälern, in denen der Wind selbst im Hochsommer Eiskristalle mit sich trägt.
Hier leben die Lauschenden Mönche, die im Lärm der Welt nach den schwachen Echos der Geräusche horchen, die das Universum in Bewegung setzten.
Hier leben die Brüder von Kühl, eine sehr zurückhaltende und verschlossene Sekte, die glaubt, dass man das Universum nur mit kühler Kaltschnäuzigkeit verstehen kann. Außerdem sind die Brüder davon überzeugt, dass Schwarz zu allem passt und Chrom nie ganz aus der Mode gerät.
In ihrem Schwindel erregend hohen und von Seilen durchzogenen Tempel prüfen die Balancierenden Mönche die Spannung der Welt und unternehmen lange, gefährliche Reisen, um ihr Gleichgewicht wiederherzustellen. Das Ergebnis ihrer Bemühungen sieht man auf hohen Bergen und fernen Inseln in Form von kleinen Messinggewichten, keins von ihnen größer als eine Faust. Sie funktionieren. Es besteht gar kein Zweifel daran, dass sie funktionieren, denn bisher ist die Welt noch nicht umgekippt.
Und im höchsten, grünsten und luftigsten Tal von allen, wo Aprikosen angebaut werden und selbst an den wärmsten Tagen Eis auf den Bächen treibt, steht das Kloster Oi Dong mit den kämpfenden Mönchen des Ordens von Wen. Die anderen Sekten nennen sie die Geschichtsmönche. Über ihre Aktivitäten weiß man kaum etwas. Allerdings hat man sich gelegentlich darüber gewundert, dass es in ihrem kleinen Tal immer ein wundervoller sonniger Frühlingstag ist und die Kirschbäume ständig blühen.
Gerüchten zufolge sorgen die Geschichtsmönche dafür, dass das Morgen auf der Grundlage eines mystischen Plans geschieht, der von einem immerzu überraschten Mann ausgearbeitet wurde.
Seit einiger Zeit – es wäre unmöglich und lächerlich zu sagen, seit wann – ist die Wahrheit weitaus seltsamer und gefährlicher.
Die Aufgabe der Geschichtsmönche besteht darin, sicherzustellen, dass es überhaupt ein Morgen gibt.
Der Novizenmeister traf sich mit Rinpo, dem Chefakolythen des Abts. Derzeit war das Amt des Chefakolythen sehr wichtig. In seinem gegenwärtigen Zustand brauchte der Abt Hilfe bei vielen Dingen, und seine Aufmerksamkeit währte nie sehr lange. Unter solchen Umständen ist immer jemand bereit, die Bürde zu tragen. Rinpos gibt es überall.
»Es geht wieder um Ludd«, sagte der Novizenmeister.
»Meine Güte. Ein freches Kind kann dich doch nicht beunruhigen, oder?«
»Ein gewöhnliches freches Kind nicht, nein. Woher stammt er?«
»Meister Soto hat ihn geschickt«, antwortete Rinpo. »Erinnerst du dich an ihn? Er gehört zu unserer Sektion in Ankh-Morpork. Er fand den Jungen in der Stadt. Hat ein natürliches Talent, soweit ich weiß.«
Der Novizenmeister wirkte schockiert. »Talent! Er ist ein verschlagener Dieb! Er ging in die Schule der Diebesgilde!«
»Und wenn schon«, erwiderte Rinpo. »Kinder stibitzen manchmal etwas. Schlagt sie ein wenig, dann hören sie auf damit. Das ist einfache Erziehung.«
»Ah. Es gibt da ein Problem.«
»Ja?«
»Er ist sehr, sehr schnell. Um ihn herum gehen Dinge verloren. Kleine Dinge. Unwichtige Dinge. Aber selbst wenn man ihn genau im Auge behält… Man sieht nie, wie er sie entwendet.«
»Dann stiehlt er sie vielleicht gar nicht.«
»Er geht durch ein Zimmer, und Dinge verschwinden!«, betonte der Novizenmeister.
»Er ist so schnell? Dann können wir von Glück sagen, dass Soto ihn gefunden hat. Aber ein Dieb…«
»Später tauchen sie an sonderbaren Orten wieder auf«, sagte der Novizenmeister mit offensichtlichem Widerstreben. »Bestimmt will er Unruhe stiften.«
Der laue Wind wehte den Duft von Kirschblüten über die Terrasse.
»Weißt du, ich bin an Ungehorsam gewöhnt«, sagte der Novizenmeister. »So etwas gehört einfach zum Leben eines Novizen. Aber er ist auch unpünktlich.«
»Unpünktlich?«
»Er kommt zu spät zu seinen Lektionen.«
»Wie kann ein Schüler hier zu spät kommen?«
»Herrn Ludd scheint das gleich zu
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