Der Zeitdieb
ich lasse dich nicht los.«
»Ich meine, du sollst die Hand nicht loslassen, weil sonst alle Teile deines Körpers so zusammengepresst werden, dass sie weniger Platz einnehmen als ein Atom.«
»Oh.«
»Und versuch nicht dir vorzustellen, wie dies wirklich von außen aussieht. Hier kommt die Uhhhrrrrrrrr…«
Herr Weiß schloss den Mund. Sein Gesichtsausdruck verriet erst Verblüffung, dann Entsetzen, einen Schock… und schließlich schrecklich wundervolle Glückseligkeit.
Er löste sich auf. Wie ein großes, komplexes Puzzle aus vielen kleinen Teilen, fiel er auseinander. Zuerst zerbröckelten die Gliedmaßen, dann auch der Rest des Körpers. Ganz zum Schluss verschwanden die Lippen.
Eine halb zerkaute, von Schokolade überzogene Kaffeebohne fiel zu Boden. Lu-Tze bückte sich rasch, griff nach der Axt und zeigte sie den Revisoren. Sie wichen zurück, wie hypnotisiert von der Autorität.
»Wem gehört diese Axt?«, fragte er. »Wer erhebt Anspruch darauf?«
»Es ist meine!«, antwortete eine graue Frau. »Ich bin Frau Maulwurfsgrau!«
»Ich bin Herr Orange, und die Axt gehört mir!«, schrie Herr Orange. »Es steht nicht einmal fest, ob Maulwurfsgrau eine richtige Farbe ist!«
Ein Revisor in der Menge fragte nachdenklich: »Kann es sein, dass Hierarchie übertragbar ist?«
»Natürlich nicht!« Herr Orange sprang auf und ab.
»Ihr müsst es unter euch selbst entscheiden«, sagte Lu-Tze und warf die Axt. Hundert Augenpaare beobachteten, wie sie fiel.
Herr Orange erreichte sie als Erster, aber Frau Maulwurfsgrau trat ihm auf die Finger. Anschließend wurde alles sehr hektisch und verwirrend und, nach den Geräuschen aus dem Kern des Durcheinanders zu schließen, auch sehr schmerzhaft.
Lu-Tze nahm den Arm der verblüfften Unity.
»Wie schnell sie lernen«, sagte er. »Wir überlassen es besser ihnen selbst. Niemand wird uns danken, wenn wir uns einmischen.«
Irgendwo in dem Gewühl erklang ein Schrei.
»Demokratie bei der Arbeit«, kommentierte Lu-Tze fröhlich. Er sah auf. Die Flammen über der Welt verblassten, und er fragte sich, wer gewonnen hatte.
Vorn schimmerte hellblaues Licht, hinten dunkelrotes, und es erstaunte Susanne, dass sie beides sehen konnte, ohne die Augen zu öffnen oder den Kopf zu drehen. Ob die Augen nun offen oder geschlossen waren – sich selbst konnte Susanne nicht sehen. Nur ein leichter Druck dort, wo sie ihre Finger vermutete, teilte ihr mit, dass sie mehr war als reine Perspektive.
Irgendwo in der Nähe lachte jemand.
Eine Stimme sagte: »Der Kehrer meinte, jeder müsste einen Lehrer finden und dann den eigenen Weg.«
»Und?«, fragte Susanne.
»Dies ist mein Weg. Der Weg nach Hause.«
Und dann, mit einem Geräusch, das Jason immer verursachte, wenn er ein hölzernes Lineal über den Rand seines Tisches hinausragen und schwirren ließ, endete die Reise.
Vielleicht hatte sie nicht einmal stattgefunden. Direkt vor Susanne stand die gläserne Uhr in voller Größe und glänzte. In ihrem Innern war kein blaues Glühen zu sehen. Es war einfach nur eine Uhr, völlig transparent. Und sie tickte.
Susanne sah an ihrem Arm hinunter und dann an seinem Arm empor, bis ihr Blick Lobsangs Gesicht erreichte. Er ließ ihre Hand los.
»Wir sind da«, sagte er.
» Mit der Uhr?«, fragte Susanne und spürte, wie sie nach Luft schnappte, um wieder zu Atem zu kommen.
»Dies ist nur ein Teil der Uhr«, sagte Lobsang. »Der andere Teil.«
»Der außerhalb des Universums?«
»Ja. Die Uhr hat viele Dimensionen. Hab keine Angst.«
»Ich habe in meinem ganzen Leben nie vor irgendetwas Angst gehabt«, erwiderte Susanne und schnaufte noch immer. »Nicht in dem Sinne Angst. Ich ärgere mich höchstens. Und ich ärgere mich auch jetzt. Bist du Lobsang oder Jeremy?«
»Ja.«
»Diese Antwort habe ich regelrecht herausgefordert. Bist du Lobsang und Jeremy?«
»Schon besser. Ja. Ich werde mich immer an sie beide erinnern. Aber mir wäre es lieber, wenn du mich Lobsang nennst. Er hat die besseren Erinnerungen. Der Name Jeremy gefiel mir nicht einmal, als ich Jeremy war .«
»Du bist wirklich sie beide ?«
»Ich bin… alles von ihnen, das es zu bewahren lohnt, hoffe ich. Sie waren sehr verschieden und beide ich selbst, nur einen Augenblick voneinander entfernt geboren. Und für sich allein fand keiner von ihnen Zufriedenheit und Glück. Man könnte sich fragen, ob wirklich etwas dran ist an der Astrologie.«
»Oh, es ist etwas dran«, erwiderte Susanne. »Zum Beispiel Irrglauben,
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