Der Zeitdieb
MARMELADE.
»Warum verhältst du dich so, Großvater? Du schläfst doch nie.«
ICH FINDE ES ERHOLSAM. GEHT ES DIR GUT?
»Mir ging es gut, bis die Ratte kam.«
KOMMST DU BERUFLICH GUT VORAN? DU WEISST JA, DASS DU MIR VIEL BEDEUTEST.
»Danke«, erwiderte Susanne knapp. »Und jetzt möchte ich wissen, warum du…«
KANN EIN WENIG SMALLTALK SCHADEN?
Susanne seufzte. Sie wusste, was dahinter steckte, und es war kein fröhlicher Gedanke, viel eher ein kleiner, trauriger und zittriger Gedanke, der lautete: Jeder von ihnen hatte nur den jeweils anderen. Na bitte. Es war ein Gedanke, der praktisch in sein eigenes Taschentuch schluchzte, aber er entsprach der Wahrheit.
Oh, Tod hatte seinen Diener Albert, und dann gab es da auch noch den Rattentod, wenn er so etwas wie Gesellschaft bot.
Und was Susanne betraf…
Sie war zum Teil unsterblich, und das erklärte den Rest. Sie konnte Dinge sehen, die wirklich existierten. 8 Sie konnte die Zeit wie eine Jacke überstreifen und ablegen. Regeln, die für alle anderen galten, zum Beispiel die Schwerkraft, galten für sie nur dann, wenn sie es zuließ. Und wie sehr man sich auch bemühte: Solche Dinge wirkten sich auf eine Beziehung aus. Es fiel schwer, mit anderen Leuten umzugehen, wenn ein Teil von einem selbst sie als vorübergehende Ansammlungen von Atomen sah, die sich in einigen Jahrzehnten auflösen würden.
Und dort begegnete Susanne jenem kleinen Teil des Todes, der kaum mit Leuten umgehen konnte, wenn er sie für real hielt.
Es verstrich kein Tag, an dem sie nicht ihre besondere Abstammung bedauerte. Und dann fragte sie sich, wie es sich anfühlen mochte, durch die Welt zu wandern, ohne sich bei jedem Schritt der Felsen unter den Füßen und der Sterne am Himmel bewusst zu sein, mit nur fünf Sinnen zurechtkommen zu müssen, was fast auf Blindheit und Taubheit hinauslief…
SIND DIE KINDER WOHLAUF? SIE HABEN HÜBSCHE BILDER VON MIR GEMALT.
»Ja. Wie geht es Albert?«
ES GEHT IHM GUT.
… und eigentlich war es kein Smalltalk, fand Susanne. Für Smalltalk gab es in einem großen Universum keinen Platz.
DIE WELT FINDET EIN ENDE.
Das waren große Worte. »Wann?«
NÄCHSTEN MITTWOCH.
»Warum?«
DIE REVISOREN SIND ZURÜCKGEKEHRT, sagte Tod.
»Die bösen kleinen Burschen?«
JA.
»Ich verabscheue sie.«
ICH HABE NATÜRLICH KEINE GEFÜHLE, sagte Tod mit einer Pokermiene, wie sie nur ein Totenschädel haben kann.
»Auf was sind sie diesmal aus?«
DAS WEISS ICH NICHT.
»Ich dachte, du könntest dich an die Zukunft erinnern?«
JA. ABER ETWAS HAT SICH GEÄNDERT. NACH DEM NÄCHSTEN MITTWOCH GIBT ES KEINE ZUKUNFT.
»Es muss doch irgendetwas geben, und wenn es nur Trümmer sind!«
NEIN. NACH EIN UHR AM NÄCHSTEN MITTWOCH GIBT ES NICHTS. NUR EIN UHR AM MITTWOCH, FÜR IMMER UND IMMER. NIEMAND WIRD LEBEN. NIEMAND WIRD STERBEN. DAS SEHE ICH JETZT. DIE ZUKUNFT HAT SICH VERÄNDERT. VERSTEHST DU?
»Und was hat das mit mir zu tun?« Susanne wusste, dass dies für alle anderen dumm klingen musste.
MAN SOLLTE MEINEN, DAS ENDE DER WELT BETRIFFT ALLE.
»Du weißt, was ich meine!«
ICH GLAUBE, DIESE SACHE HAT MIT DER NATUR DER ZEIT ZU TUN, DIE SOWOHL UNSTERBLICH ALS AUCH MENSCHLICH IST. ES GAB GEWISSE… NEBENWIRKUNGEN.
»Die Revisoren wollen etwas mit der Zeit anstellen? Ich dachte, so etwas sei ihnen nicht erlaubt.«
DAS STIMMT. ABER MENSCHEN SIND SOLCHE GRENZEN NICHT GESETZT. ES GESCHAH SCHON EINMAL.
»Niemand wäre so dumm…«
Susanne unterbrach sich. Natürlich wäre jemand so dumm. Manche Menschen waren zu allem fähig, nur um herauszufinden, ob es sich bewerkstelligen ließ. Wenn man in irgendeiner Höhle einen Schalter anbrächte und mit dem Hinweis »Schalter für das Ende der Welt. BITTE NICHT DRÜCKEN« beschriftete, so hätte die Farbe kaum Gelegenheit zu trocknen.
Susanne dachte noch etwas länger nach. Tod beobachtete sie.
»Es gibt da ein Buch, aus dem ich der Klasse vorlese«, sagte sie schließlich. »Ich habe es eines Tages auf meinem Pult gefunden. Es heißt Grimmige Märchen…«
AH, FRÖHLICHE GESCHICHTEN FÜR KLEINE LEUTE, erwiderte Tod ohne eine Spur von Ironie.
»… und darin geht es vor allem um Bösewichter, die auf schreckliche Weise sterben. Eigentlich seltsam. Die Kinder scheinen das ganz gut zu finden. Sie sind deswegen überhaupt nicht beunruhigt.«
Tod schwieg.
»Bis auf die Geschichte über die Gläserne Uhr von Bad Schüschein«, fuhr Susanne fort und behielt den Totenschädel im Auge. »Sie ließ die Kinder nervös werden,
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