Der Zeitdieb
der Klassenzimmer-Geschichte, ebenso wie das Spielhaus. Aber der Besitz des Spielhauses regelte sich meistens von selbst, ohne dass Susanne eingreifen musste. Sie hielt sich nur mit Salbe, einem Taschentuch und Mitgefühl für den Verlierer bereit. Bezüglich des Schranks mit dem Schreibmaterial fand dagegen eine Art Zermürbungskrieg statt. Er enthielt Töpfe mit Farbpulver, jede Menge Papier, Schachteln mit Buntstiften und einige besondere Dinge wie zum Beispiel eine trockene Hose für Billy, der sich alle Mühe gab. Hinzu kamen die Schere – nach den Klassenzimmerregeln so etwas wie eine Weltuntergangsmaschine – und natürlich die Sterne. Die einzigen Personen, die den Schrank mit dem Schreibmaterial öffnen durften, waren Susanne und Vincent. Direkte Täuschungsmanöver wären notwendig gewesen, um zu verhindern, dass Vincent bei allen Dingen am besten abschnitt. Ganz gleich, womit es Susanne versuchte: Er erwarb jeden Tag die begehrte Ehre, den Schrank mit dem Schreibmaterial zu öffnen, die Stifte daraus hervorzuholen und sie zu verteilen. Für den Rest der Klasse, und vor allem für Jason, stellte der Schrank eine geheimnisvolle Sphäre dar, die es bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu erforschen galt.
Wenn man gelernt hatte, den Schrank mit dem Schreibmaterial zu verteidigen, Jason zu überlisten und dafür zu sorgen, dass das Haustier der Klasse bis zum Ende des Schuljahrs überlebte… Dann beherrschte man zumindest die Hälfte der Lehrkunst.
Susanne unterschrieb die Namensliste, bewässerte die traurig wirkenden Pflanzen auf der Fensterbank, holte frischen Liguster von der Hecke für die Stabheuschrecken, die die Nachfolge des Hamsters Henry angetreten hatten (es war nur schwer festzustellen, wann sie tot waren, ein Umstand, der bei ihrer Auswahl eine wichtige Rolle gespielt hatte), sammelte einige vergessene Buntstifte ein und ließ den Blick dann noch einmal durchs Klassenzimmer mit den vielen kleinen Stühlen gleiten. Manchmal erfüllte es sie mit Besorgnis, dass fast alle Personen, die sie kannte, kaum einen Meter groß waren.
Bei solchen Gelegenheiten wusste sie nie, ob sie ihrem Großvater traute. Es hatte mit Regeln zu tun. Er selbst konnte nicht eingreifen, aber er kannte ihre Schwächen und nutzte sie aus, um sie in die Welt zu schicken…
Jemand wie ich. Ja, er verstand es, ihr Interesse zu wecken.
Jemand wie ich. Plötzlich gibt es irgendwo auf der Welt eine gefährliche Uhr, und plötzlich erfahre ich, dass jemand wie ich existiert.
Jemand wie ich. Und doch nicht wie ich. Ich kenne wenigstens meine Eltern.
Und sie hatte zugehört, als Tod ihr die Geschichte von der großen, dunkelhaarigen Frau erzählte, die durch die Zimmer eines endlosen Schlosses aus Glas wanderte und um das Kind weinte, das sie zur Welt gebracht hatte und jeden Tag sehen, aber nie berühren konnte…
Wo soll ich nur anfangen?
Tick
Lobsang lernte viel. Er lernte, dass jedes Zimmer mindestens vier Ecken hatte. Er lernte, dass Kehrer mit der Arbeit begannen, wenn der Himmel hell genug wurde, um den Staub zu sehen. Und sie fegten bis Sonnenuntergang.
Als Lehrer war Lu-Tze recht freundlich. So zeigte er immer auf die Stellen, wo Lobsang nicht sorgfältig genug gefegt hatte.
Nach dem ersten Ärger und den spöttischen Bemerkungen seiner früheren Klassenkameraden stellte Lobsang fest, dass die Arbeit einen gewissen Reiz hatte. Die Tage strichen unter seinem Besen vorbei…
… bis es in seinem Gehirn fast hörbar »Klick« machte und er entschied, dass es ihm reichte. Er hörte auf zu fegen und ging zu Lu-Tze, der seinen Besen verträumt über eine Terrasse lenkte.
»Kehrer?«
»Ja, Junge?«
»Was willst du mir mitteilen?«
»Wie bitte?«
»Ich habe nicht damit gerechnet, zu einem… Kehrer zu werden! Du bist Lu-Tze! Ich habe erwartet, der Schüler eines… nun, eines Helden zu sein!«
»Hast du das?« Lu-Tze kratzte sich im Bart. »Oh, meine Güte. Ja, ich erkenne das Problem. Du hättest mich darauf hinweisen sollen. Warum hast du das versäumt? Eigentlich befasse ich mich nicht mehr mit solchen Dingen.«
»Was?«
»Ich meine, mit der Geschichte herumzuspielen, durch die Epochen zu wandern und Leute zu erschrecken… Um ganz ehrlich zu sein: Ich war immer der Meinung, dass so etwas falsch ist. Nein, ich begnüge mich damit zu fegen. Ein hübscher sauberer Boden hat etwas… Reales. «
»Dies ist eine Prüfung, nicht wahr?«, fragte Lobsang kühl.
»Oh, ja.«
»Ich meine, ich verstehe,
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