Der Zeitdieb
wie so etwas funktioniert. Der Lehrer lässt den Schüler alle niederen Arbeiten verrichten, und dann stellt sich heraus, dass der Schüler dabei wichtige Dinge lernt… Aber ich lerne überhaupt nichts, abgesehen vielleicht davon, dass die Leute ziemlich viel Schmutz hinterlassen, ohne einen Gedanken daran zu vergeuden.«
»Was keine schlechte Lektion sein dürfte«, sagte Lu-Tze. »Steht nicht geschrieben ›Harte Arbeit hat noch niemandem geschadet‹?«
»Wo steht das geschrieben, Lu-Tze?«, fragte Lobsang verzweifelt.
Die Miene des Kehrers erhellte sich. »Ah«, sagte er. »Vielleicht ist der Schüler bereit zu lernen. Vielleicht möchtest du nicht den Weg des Kehrers kennen lernen, sondern den Weg von Frau Kosmopilit?«
»Wer ist das denn?«
»Wir haben gut gefegt. Lass uns den Garten aufsuchen. Denn steht nicht geschrieben ›Es tut dir gut, an die frische Luft zu kommen‹?«
»Das steht tatsächlich geschrieben?«, erwiderte Lobsang verwirrt.
Lu-Tze holte ein kleines zerfleddertes Notizbuch aus seiner Tasche.
»Ja, hier drin«, sagte er. »Das weiß ich genau.«
Tick
Lu-Tze rückte geduldig einen kleinen Spiegel zurecht, um das Sonnenlicht auf eine günstigere Stelle des Bonsai-Berges zu lenken. Dabei summte er leise vor sich hin.
Lobsang saß im Schneidersitz auf den Steinen und blätterte vorsichtig in dem alten Notizbuch. In verblasster Tinte stand darauf geschrieben: »Der Weg von Frau Kosmopilit«.
»Nun?«, fragte Lu-Tze.
»Der Weg hat eine Antwort auf alles, oder?«
»Ja.«
»Na schön.« Lobsang deutete auf den kleinen Vulkan, der ruhig vor sich hin rauchte. »Wie funktioniert das? Er steht auf einem Teller!«
Lu-Tze blickte starr geradeaus, und seine Lippen bewegten sich. »Seite sechsundsiebzig, glaube ich«, sagte er.
Lobsang sah im Notizbuch nach. »›Deshalb‹«, las er.
»Eine gute Antwort«, kommentierte Lu-Tze. Mit einer Kamelhaarbürste strich er behutsam über einen winzigen Felsvorsprung.
»Einfach nur ›Deshalb‹, Meister? Kein Grund ?«
»Grund? Welchen Grund könnte ein Berg haben? Und wenn du älter wirst und Erfahrungen sammelst, so wirst du merken, dass die meisten Antworten letztendlich auf ›Deshalb‹ hinauslaufen.«
Lobsang schwieg. Das Buch des Weges bereitete ihm Probleme. Am liebsten hätte er gesagt: Lu-Tze, dies klingt nach den Sprüchen einer alten Frau. Alte Frauen sagen so etwas. Was für eine Art von Koan ist »Es wird nicht besser, wenn du dich kratzt«, oder »Iss alles auf, dann wird dein Haar lockig«, oder »Wer lange genug wartet, bekommt alles«? Solche Redensarten findet man auf Zetteln in Silvester-Keksen!
»Glaubst du?«, fragte Lu-Tze, dessen Aufmerksamkeit noch immer ganz dem Berg zu gelten schien.
»Ich habe nichts gesagt.«
»Oh. Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Vermisst du Ankh-Morpork?«
»Ja. Dort brauchte ich nicht zu fegen.«
»Warst du ein guter Dieb?«
»Ich war ein fantastischer Dieb.«
Sanfter Wind trug den Duft von Kirschblüten heran. Es wäre nett, wenn man einmal, nur ein einziges Mal, Kirschen pflücken könnte, dachte Lu-Tze.
»Ich bin in Ankh-Morpork gewesen«, sagte er, richtete sich auf und ging zum nächsten Berg. »Hast du die Leute gesehen, die hierher zu uns kommen?«
»Ja«, erwiderte Lobsang. »Alle lachen über sie.«
»Tatsächlich?« Lu-Tze hob die Brauen. »Obwohl sie Tausende von Meilen zurückgelegt haben, auf der Suche nach der Wahrheit?«
»Aber hat Wen nicht gesagt: ›Wenn die Wahrheit irgendwo ist, so ist sie überall‹?«, fragte Lobsang.
»Bravo. Wie ich sehe, hast du wenigstens etwas gelernt. Aber eines Tages gewann ich den Eindruck, dass alle anderen glaubten, Weisheit könnte man nur in weiter Ferne finden. Deshalb ging ich nach Ankh-Morpork. Was mir fair erschien, denn von dort kamen viele Besucher hierher.«
»Du bist nach Ankh-Morpork gegangen und hast dort nach Erleuchtung gesucht?«
»Nein. Der Kluge sucht nicht nach Erleuchtung, sondern wartet darauf«, sagte Lu-Tze. »Und während ich wartete, fiel mir ein, dass die Suche nach verblüffenden Dingen mehr Spaß machen könnte. Immerhin beginnt die Erleuchtung dort, wo die Verblüffung aufhört. Nun, ich habe es gefunden, das Verblüffende. Und auch eine Art von Erleuchtung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ich war noch keine fünf Minuten in Ankh-Morpork, als einige Männer in einer Gasse versuchten, mir all die Dinge abzunehmen, die ich besaß. Ich fand das sehr erleuchtend, denn es verriet mir, wie lächerlich
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