Der Zeitdieb
die Augen und lächelte.
Lobsang holte mit dem Stab aus.
Und zögerte.
Lu-Tzes Lächeln wuchs in die Breite.
Regel Zwei, Regel Drei… Wie lautete Regel Eins?
Vergiss nie die erste Regel…
»Lu-Tze!«
Der Chefakolyth des Abts stand schnaufend in der Tür und winkte aufgeregt.
Lu-Tze öffnete ein Auge, dann auch das andere und zwinkerte Lobsang zu.
»Da bin ich noch einmal davongekommen«, bemerkte er und wandte sich dem Akolythen zu. »Ja, erhabener Herr?«
»Du musst sofort mitkommen! Und das gilt für alle Mönche, die auf einen Ausflug in die Welt vorbereitet sind! Zum Mandalasaal! Schnell!«
Es kam zu einem Durcheinander auf der Galerie. Einige Mönche bahnten sich einen Weg durch die Menge.
»Ah, Aufregung«, sagte Lu-Tze. Er zog den Stab aus Lobsangs widerstandslosen Händen und legte ihn ins Gestell zurück. Die Beobachtungsgalerie leerte sich rasch, und überall in Oi Dong erklangen Gongs.
»Was ist los?«, fragte Lobsang, als der letzte Mönch forthastete.
»Ich schätze, das erfahren wir bald«, erwiderte Lu-Tze und begann damit, sich eine Zigarette zu rollen.
»Sollten wir uns nicht beeilen? Alle sind losgelaufen!« Das Geräusch auf den Boden klatschender Sandalen verhallte in der Ferne.
»Es scheint nichts in Brand geraten zu sein«, sagte Lu-Tze ruhig. »Außerdem ist es besser, ein wenig zu warten. Dann erreichen wir den Ort des Geschehens, wenn sich die anderen beruhigt haben und wieder vernünftig geworden sind. Lass uns den Uhrweg nehmen. Um diese Tageszeit ist er besonders hübsch.«
»Aber… aber…«
»Es steht geschrieben ›Man muss gehen lernen, bevor man laufen kann‹«, sagte Lu-Tze und schwang seinen Besen über die Schulter.
»Ein weiteres Zitat von Frau Kosmopilit?«
»Eine bemerkenswerte Frau. Und wie sie Staub wischte!«
Der Uhrweg führte vom Hauptgebäude des Klosters durch die Terrassengärten und traf dort auf den Hauptweg, wo der Tunnel durch die Felswand begann. Novizen fragten immer, wieso der Pfad Uhrweg hieß, denn es war nirgends eine Uhr zu sehen.
Weitere Gongs ertönten, aber die Vegetation dämpfte ihren Klang. Vom Hauptweg her vernahm Lobsang das Geräusch laufender Füße. Hier glitten Kolibris von Blüte zu Blüte, ohne etwas von der Aufregung zu spüren.
»Ich frage mich, wie spät es ist«, sagte Lu-Tze, der vor dem Jungen ging.
Alles ist eine Prüfung. Lobsang sah zu den Blumenbeeten.
»Viertel nach neun«, sagte er.
»Ach? Und woher weißt du das?«
»Die Ringelblumen sind offen, das rote Sandkraut öffnet sich, die purpurne Winde ist geschlossen, und der gelbe Bocksbart schließt sich«, erwiderte Lobsang.
»Du hast ganz allein herausgefunden, dass es eine Blumenuhr ist?«
»Ja. Es ist offensichtlich.«
»Tatsächlich? Wie spät ist es, wenn sich die weiße Seerose öffnet?«
»Sechs Uhr morgens.«
»Hast du nachgesehen?«
»Ja. Du hast diesen Garten angelegt, nicht wahr?«
»Er gehört zu meinen kleinen… Leistungen.«
»Er ist wunderschön.«
»Nach Sonnenuntergang geht die Blumenuhr nicht sehr genau. Nur wenige Pflanzen, die nachts blühen, wachsen hier. Die Blütenkelche öffnen sich für die Motten, weißt du…«
»Auf diese Weise möchte die Zeit gemessen werden«, sagte Lobsang.
»Wirklich? Ich bin da natürlich kein Experte.« Er drückte die Zigarette aus und klemmte sie sich hinters Ohr. »Na schön, gehen wir weiter. Inzwischen haben die anderen vielleicht damit aufgehört, aneinander vorbeizureden. Was hältst du davon, den Mandalasaal noch einmal aufzusuchen?«
»Oh, kein Problem. Ich hatte ihn nur… vergessen.«
»Ach? Obwohl du ihn noch nie zuvor gesehen hattest. Aber die Zeit spielt uns allen seltsame Streiche. Einmal habe ich zum Beispiel…« Lu-Tze unterbrach sich und starrte seinen Schüler groß an. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist plötzlich ganz blass.«
Lobsang schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf.
»Etwas… fühlte sich seltsam an.« Er machte eine vage Geste, die dem Flachland galt, dessen blaue und graue Muster sich am Horizont zeigten. »Etwas dort drüben…«
Die gläserne Uhr. Das große gläserne Haus, und hier, wo sie nicht sein sollte, die gläserne Uhr. Sie war kaum da, nur eine Form von schimmernden Linien in der Luft. Als wäre es möglich, Licht auf einer reflektierenden Substanz funkeln zu lassen, ohne dass die Substanz selbst existierte.
Hier war alles transparent: zierliche Stühle, Tisch und Blumenvasen. Und dann begriff er, dass es sich nicht in dem Sinne
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